Der erste Teil der Rückschau findet sich hier.
Proteste und engagierte Blicke – das Kunstjahr 2022
Proteste gegen Gastprofessoren, Klimaaktivismus im Museum und der Blick des Menschen auf sich selbst: Nach der Corona-Pandemie steht die Welt angesichts des Krieges, der Inflation und Klimaveränderungen vor einem Wandel. Auch die Kunstwelt ist eng mit diesen politischen Entwicklungen verbunden. Der Art.Salon blickt zurück auf die letzten zwölf Monate.
Folgen des documenta-Skandals
Einen Monat nach dem Start der documenta trat die Generaldirektorin Sabine Schormann von ihrem Amt zurück. Ihre Zurückhaltung und jede Verweigerung, an Diskussionen teilzunehmen, trafen auf harsche – und berechtigte Kritik. Als Generaldirektorin ist sie zwar nur indirekt für die Künstler und Exponate verantwortlich, schließlich überließ man diese Entscheidung dem Kollektiv ruangrupa, trotzdem erwartete die Welt von ihrer Position eine Stellungnahme.
Kritik und Proteste gab es auch im Oktober in Hamburg, wo die Hochschule für Bildende Künste zwei ruangrupa-Mitglieder als Gastprofessoren vorstellte. Die Einladung an Reza Afisina und Iswanto Hartono erfolgte bereits vor der documenta-Eröffnung. Die Hochschule feierte sie als Erfolg in ihrem Vorhaben, sich mit Positionen des Globalen Südens zu vernetzen. Weil dann doch alles anders kam, sorgten Proteste für den Abbruch der offiziellen Vorstellung. Afisinas und Hartonos Äußerungen, keine Antisemiten zu sein, fanden bislang wenig Gehör. Präsident Martin Köttering verteidigt den Entschluss der HfBK, an ihrem Vorhaben festzuhalten: »Wir bieten den Themen, die im Rahmen der documenta fifteen aufgeworfen, aber eben nicht ausreichend reflektiert wurden, einen Diskursraum, um sich ihnen ernsthaft zu widmen. Wenn nicht hier, an einer künstlerisch-wissenschaftlichen Hochschule, wo und wann sonst sollte das stattfinden?«
Die Letzte Generation protestiert
In mehreren Museen in Europa und Nordamerika kamen Kunstwerke mit Nahrungsmitteln in Kontakt – dachte man zunächst. Tatsächlich bewarfen Klimaaktivisten der Letzten Generation nur Gemälde, die mit Sicherheitsglas geschützt sind. Kein Kunstwerk haben sie bisher beschädigt, lediglich einige Rahmen mussten gesäubert werden. Die Proteste lösten Empörung bei Politikern und in den Sozialen Medien aus, als »Kulturbarbarei« bezeichnete der Potsdamer Oberbürgermeister Mike Schubert (SPD) sie etwa. Seither diskutiert die Öffentlichkeit über Verurteilungen und höhere Sicherheitsstandards, die Folgen des Klimawandels geraten ins Hintertreffen.
Meisterwerke für den guten Zweck
Mehr Weitsicht erwies Microsoft-Mitgründer Paul G. Allen: Bevor er 2018 verstarb, legte er noch zu Lebzeiten fest, dass seine Kunstsammlung für wohltätige Zwecke versteigert werden soll. Zum Jahresende erwies sich die Auktion bei Christie’s als Rekordauktion: Über 1,5 Milliarden US-Dollar erzielte sie insgesamt.
Zahlreiche Malerinnen und Maler wie Lucian Freud, Georgia O'Keeffe, Barbara Hepworth, Max Ernst und Thomas Hart Benton erreichten neue Rekordmarken. Fünf Gemälde knackten die 100 Millionen-Dollar-Marke: Gustav Klimts Birch Forest (1903) brachte 104,5 Millionen, Georges Seurats Les Poseuses, Ensemble (Petite version) (1888) erzielte 149,2 Millionen, Vincent Van Goghs Verger avec cyprès (1888) 117,2 Millionen, Paul Cezannes La Montagne Sainte-Victoire (1888/1890) 137,8 Millionen und Paul Gauguins Maternité II (1899) 105,7 Millionen US-Dollar.
Zeitlose Figurenmalerei
Die figürliche Malerei erlebt in den letzten Jahren einen Höhenflug, mit an der Speerspitze steht die britische Künstlerin Lynette Yiadom-Boakye. Ihre Porträts imaginärer Schwarzer Personen beleben abstrakte Hintergründe und offenbaren auf den ersten Blick ungeahnte politische und psychologische Dimensionen. 2020 musste die Tate Britain ihre Ausstellung pandemiebedingt abbrechen, und wiederholt sie derzeit. Bis zum 26. Februar sind etwa 70 ihrer Arbeiten in London zu sehen.
Jüngste Auktionsergebnisse von Lynette Yiadom-Boakye
Auch die 1984 verstorbene Alice Neel befasste sich mit politisch aufgeladenen Porträts. Ihre Motive behandeln meist Menschen, die von der intellektuellen Elite ausgeschlossen sind. In Paris widmet sich das Centre Pompidou ihrem »engagierten Blick« bis zum 2. Januar mit einer Soloausstellung.
Der ebenfalls aus Großbritannien stammende Maler Lucian Freud wäre vor wenigen Wochen 100 Jahre alt geworden – wenn er nicht 2004 gestorben wäre. Seine rohen, ehrlichen Porträts von nackten Menschen, mit denen er Schönheitsideale kritisch betrachtete und Akzeptanz fördern wollte, sind in heutigen Zeiten aktueller denn je. Schönheitsoperationen und Selbstinszenierung boomen auf Social Media, Trends wie Selbstinjektionen gehen durch die Decke. Die körperlichen und psychischen Auswirkungen dieses Perfektionsstrebens sind fatal.
Blick hinter die Kulissen
Pünktlich zur dunklen Jahreszeit bietet sich ein Gegenprogramm zu endlosen Wiederholungen von Weihnachtsfilmen. Die Sammlung Scharf-Gerstenberg feiert das hundertjährige Bestehen des Horrorfilmklassikers Nosferatu von Friedrich Wilhelm Murnau. Inspiriert von Radierungen Goyas und Gemälden der Romantik übte die Bildsprache des Films selbst Einfluss auf Kunstschaffende der 20er Jahre.
Wer es etwas sanfter mag, dem ist der Animationsfilm Pinocchio von Horror-Großmeister Guillermo del Toro empfohlen. Zum Start des Netflix-Films eröffnet das Museum of Modern Art in New York eine Behind-the-Scenes-Ausstellung, die in die aufwendige Produktion mit Stop-Motion-Technik einführt. Die Verfilmung des italienischen Kinderbuchklassikers löst sich von der Vorlage und erweist sich als deutlich düsterer. Eine Wundergeschichte mit leichtem Grusel für diejenigen, die an Weihnachten mal etwas anderes sehen möchten.
Dive deeper into the art world
Krieg, Legenden und Skandale – das Kunstjahr 2022
Documenta fifteen, 59. Biennale von Venedig, Picassos La fenêtre ouverte das erste Mal in einer Auktion – das Kunstjahr 2022 hatte es in sich. Nicht zuletzt bewegten auch der Krieg in der Ukraine oder gar die Klimakrise Museen und Galerien. Der Art.Salon blickt zurück auf die letzten zwölf Monate.
Portraits einer mentalen Gesellschaft
Ist unsere Persönlichkeit nur eine Illusion? Die Malereien von Till Schermer eröffnen eine neue Perspektive auf die fragmentarische Psyche des Menschen. In intensiven, mitunter irritierenden Bildern lässt der Künstler die Akteure unserer mentalen Gesellschaft auftreten – vielleicht ein Aufbruch zu einem Abenteuer für den eigenen Verstand.