Jahresrückblick 2022 Teil II: Juli bis Dezember

Proteste und engagierte Blicke – das Kunstjahr 2022

Proteste gegen Gastprofessoren, Klimaaktivismus im Museum und der Blick des Menschen auf sich selbst: Nach der Corona-Pandemie steht die Welt angesichts des Krieges, der Inflation und Klimaveränderungen vor einem Wandel. Auch die Kunstwelt ist eng mit diesen politischen Entwicklungen verbunden. Der Art.Salon blickt zurück auf die letzten zwölf Monate.

von Marius Damrow, 21. December 2022

Der erste Teil der Rückschau findet sich hier.

Folgen des documenta-Skandals

documenta fifteen: Sabine Schormann auf einer Pressekonferenz im Auestadion Kassel am 15. Juni 2022.
Foto: Nicolas Wefers
documenta fifteen: Sabine Schormann auf einer Pressekonferenz im Auestadion Kassel am 15. Juni 2022.

Einen Monat nach dem Start der documenta trat die Generaldirektorin Sabine Schormann von ihrem Amt zurück. Ihre Zurückhaltung und jede Verweigerung, an Diskussionen teilzunehmen, trafen auf harsche  – und berechtigte Kritik. Als Generaldirektorin ist sie zwar nur indirekt für die Künstler und Exponate verantwortlich, schließlich überließ man diese Entscheidung dem Kollektiv ruangrupa,  trotzdem erwartete die Welt von ihrer Position eine Stellungnahme.

Kritik und Proteste gab es auch im Oktober in Hamburg, wo die Hochschule für Bildende Künste zwei ruangrupa-Mitglieder als Gastprofessoren vorstellte. Die Einladung an Reza Afisina und Iswanto Hartono erfolgte bereits vor der documenta-Eröffnung. Die Hochschule feierte sie als Erfolg in ihrem Vorhaben, sich mit Positionen des Globalen Südens zu vernetzen. Weil dann doch alles anders kam, sorgten Proteste für den Abbruch der offiziellen Vorstellung. Afisinas und Hartonos Äußerungen, keine Antisemiten zu sein, fanden bislang wenig Gehör. Präsident Martin Köttering verteidigt den Entschluss der HfBK, an ihrem Vorhaben festzuhalten: »Wir bieten den Themen, die im Rahmen der documenta fifteen aufgeworfen, aber eben nicht ausreichend reflektiert wurden, einen Diskursraum, um sich ihnen ernsthaft zu widmen. Wenn nicht hier, an einer künstlerisch-wissenschaftlichen Hochschule, wo und wann sonst sollte das stattfinden?«

Die Letzte Generation protestiert

Zwei Mitglieder der \
letztegeneration.de
Zwei Mitglieder der Gruppe die »Letzte Generation« werfen Kartoffelbrei auf Monets »Getreideschober«.

In mehreren Museen in Europa und Nordamerika kamen Kunstwerke mit Nahrungsmitteln in Kontakt – dachte man zunächst. Tatsächlich bewarfen Klimaaktivisten der Letzten Generation nur Gemälde, die mit Sicherheitsglas geschützt sind. Kein Kunstwerk haben sie bisher beschädigt, lediglich einige Rahmen mussten gesäubert werden. Die Proteste lösten Empörung bei Politikern und in den Sozialen Medien aus, als »Kulturbarbarei« bezeichnete der Potsdamer Oberbürgermeister Mike Schubert (SPD) sie etwa. Seither diskutiert die Öffentlichkeit über Verurteilungen und höhere Sicherheitsstandards, die Folgen des Klimawandels geraten ins Hintertreffen.

Meisterwerke für den guten Zweck

Mehr Weitsicht erwies Microsoft-Mitgründer Paul G. Allen: Bevor er 2018 verstarb, legte er noch zu Lebzeiten fest, dass seine Kunstsammlung für wohltätige Zwecke versteigert werden soll. Zum Jahresende erwies sich die Auktion bei Christie’s als Rekordauktion: Über 1,5 Milliarden US-Dollar erzielte sie insgesamt.

Zahlreiche Malerinnen und Maler wie Lucian FreudGeorgia O'KeeffeBarbara HepworthMax Ernst und Thomas Hart Benton erreichten neue Rekordmarken. Fünf Gemälde knackten die 100 Millionen-Dollar-Marke: Gustav Klimts Birch Forest (1903) brachte 104,5 Millionen, Georges Seurats Les Poseuses, Ensemble (Petite version) (1888) erzielte 149,2 Millionen, Vincent Van Goghs Verger avec cyprès (1888) 117,2 Millionen, Paul Cezannes La Montagne Sainte-Victoire (1888/1890) 137,8 Millionen und Paul Gauguins Maternité II (1899) 105,7 Millionen US-Dollar.

Gustav Klimt - Birch Forest
Auction
Visionary: The Paul G. Allen Collection Part I
November 2022
Christies, New York
Est.: -1 - -1 USD
Realised: 104.585.000 USD
Details
Georges Seurat - Les Poseuses, Ensemble (Petite version)
Auction
Visionary: The Paul G. Allen Collection Part I
November 2022
Christies, New York
Est.: -1 - -1 USD
Realised: 149.240.000 USD
Details
Vincent Van Gogh - Verger avec cyprès
Auction
Visionary: The Paul G. Allen Collection Part I
November 2022
Christies, New York
Est.: -1 - -1 USD
Realised: 117.180.000 USD
Details
Paul Cezanne - La Montagne Sainte-Victoire
Auction
Visionary: The Paul G. Allen Collection Part I
November 2022
Christies, New York
Est.: -1 - -1 USD
Realised: 137.790.000 USD
Details
Paul Gauguin - Maternité II
Auction
Visionary: The Paul G. Allen Collection Part I
November 2022
Christies, New York
Est.: -1 - -1 USD
Realised: 105.730.000 USD
Details

Zeitlose Figurenmalerei

Die figürliche Malerei erlebt in den letzten Jahren einen Höhenflug, mit an der Speerspitze steht die britische Künstlerin Lynette Yiadom-Boakye. Ihre Porträts imaginärer Schwarzer Personen beleben abstrakte Hintergründe und offenbaren auf den ersten Blick ungeahnte politische und psychologische Dimensionen. 2020 musste die Tate Britain ihre Ausstellung pandemiebedingt abbrechen, und wiederholt sie derzeit. Bis zum 26. Februar sind etwa 70 ihrer Arbeiten in London zu sehen.

Jüngste Auktionsergebnisse von Lynette Yiadom-Boakye

Lynette Yiadom-Boakye - Minotaur To Matador
Auction
Modern & Contemporary Art: Evening & Day Sale
June 2024
Phillips, London Auction
Est.: 900.000 - 1.500.000 GBP
Realised: 952.500 GBP
Details
Lynette Yiadom-Boakye - 5am, Cadiz
Auction
Post-War to Present
June 2024
Christies, London
Est.: 600.000 - 800.000 GBP
Realised: 567.000 GBP
Details
Lynette Yiadom-Boakye - Black Allegiance to the Cunning
Auction
21st Century Evening Sale
May 2024
Christies, New York
Est.: 1.000.000 - 1.500.000 USD
Realised: 2.954.000 USD
Details
Lynette Yiadom-Boakye - Of All The Seasons
Auction
20th / 21st Century: London Evening Sale
March 2024
Christies, London
Est.: 500.000 - 700.000 GBP
Realised: 856.800 GBP
Details
Lynette Yiadom-Boakye - Pressure on Cannibals
Auction
Post-War and Contemporary Art Day Sale
March 2024
Christies, London
Est.: 70.000 - 100.000 GBP
Realised: 163.800 GBP
Details
Lynette Yiadom-Boakye - Radiowave
Auction
New Now
December 2023
Phillips, London Auction
Est.: 60.000 - 80.000 GBP
Realised: 133.350 GBP
Details
Lynette Yiadom-Boakye - The World for a Wilderness
Auction
Evening & Day Editions
September 2023
Phillips, London Auction
Est.: 3.000 - 5.000 GBP
Realised: 3.048 GBP
Details
Lynette Yiadom-Boakye - Diplomacy I
Auction
20th/21st Century: London Evening Sale
June 2023
Christies, London
Est.: 1.000.000 - 1.500.000 GBP
Realised: 1.371.000 GBP
Details
Lynette Yiadom-Boakye - Highriser
Auction
21st Century Evening Sale
May 2023
Christies, New York
Est.: 700.000 - 1.000.000 USD
Realised: 1.008.000 USD
Details
Lynette Yiadom-Boakye - Wishes Above Needs
Auction
Post-War and Contemporary Art Day Sale
March 2023
Christies, London
Est.: 200.000 - 300.000 GBP
Realised: 453.600 GBP
Details

Auch die 1984 verstorbene Alice Neel befasste sich mit politisch aufgeladenen Porträts. Ihre Motive behandeln meist Menschen, die von der intellektuellen Elite ausgeschlossen sind. In Paris widmet sich das Centre Pompidou ihrem »engagierten Blick«  bis zum 2. Januar mit einer Soloausstellung.

Der ebenfalls aus Großbritannien stammende Maler Lucian Freud wäre vor wenigen Wochen 100 Jahre alt geworden – wenn er nicht 2004 gestorben wäre. Seine rohen, ehrlichen Porträts von nackten Menschen, mit denen er Schönheitsideale kritisch betrachtete und Akzeptanz fördern wollte, sind in heutigen Zeiten aktueller denn je. Schönheitsoperationen und Selbstinszenierung boomen auf Social Media, Trends wie Selbstinjektionen gehen durch die Decke. Die körperlichen und psychischen Auswirkungen dieses Perfektionsstrebens sind fatal.

Blick hinter die Kulissen

Albin Grau, Entwurf Filmplakat Nosferatu, 1921 Aquarell auf Halbkarton, 16 x 19cm Bildnachlass Albin Grau, Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden, Trogen (Schweiz)
Bildnachlass Albin Grau, © Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden, Trogen (CH)
Albin Grau, Entwurf Filmplakat Nosferatu, 1921, Aquarell auf Halbkarton, 16 x 19 cm

Pünktlich zur dunklen Jahreszeit bietet sich ein Gegenprogramm zu endlosen Wiederholungen von Weihnachtsfilmen. Die Sammlung Scharf-Gerstenberg feiert das hundertjährige Bestehen des Horrorfilmklassikers Nosferatu von Friedrich Wilhelm Murnau. Inspiriert von Radierungen Goyas und Gemälden der Romantik übte die Bildsprache des Films selbst Einfluss auf Kunstschaffende der 20er Jahre.

Wer es etwas sanfter mag, dem ist der Animationsfilm Pinocchio von Horror-Großmeister Guillermo del Toro empfohlen. Zum Start des Netflix-Films eröffnet das Museum of Modern Art in New York eine Behind-the-Scenes-Ausstellung, die in die aufwendige Produktion mit Stop-Motion-Technik einführt. Die Verfilmung des italienischen Kinderbuchklassikers löst sich von der Vorlage und erweist sich als deutlich düsterer. Eine Wundergeschichte mit leichtem Grusel für diejenigen, die an Weihnachten mal etwas anderes sehen möchten.Art.Salon

Mackinnon & Saunders. Pinocchio Production Puppets with rigging, 2019-2020
Image courtesy Netflix
Mackinnon & Saunders. Pinocchio Production Puppets with rigging, 2019-2020. 3D printed resin, 3D printed steel, steel, silicone, fabric, paint. 4 x 3 x 9.5″ (10.2 x 7.6 x 24.1 cm). Guillermo del Toro’s Pinocchio, 2022

Dive deeper into the art world

Jahresrückblick 2022 Teil I: Januar bis Juni

Documenta fifteen, 59. Biennale von Venedig, Picassos La fenêtre ouverte das erste Mal in einer Auktion – das Kunstjahr 2022 hatte es in sich. Nicht zuletzt bewegten auch der Krieg in der Ukraine oder gar die Klimakrise Museen und Galerien. Der Art.Salon blickt zurück auf die letzten zwölf Monate.

von Bettina Röhl, 20. December 2022
Till Schermer

Ist unsere Persönlichkeit nur eine Illusion? Die Malereien von Till Schermer eröffnen eine neue Perspektive auf die fragmentarische Psyche des Menschen. In intensiven, mitunter irritierenden Bildern lässt der Künstler die Akteure unserer mentalen Gesellschaft auftreten – vielleicht ein Aufbruch zu einem Abenteuer für den eigenen Verstand.

von Felix Brosius, 26. November 2024