Jahresrückblick 2022 Teil I: Januar bis Juni

Krieg, Legenden und Skandale – das Kunstjahr 2022

Documenta fifteen, 59. Biennale von Venedig, Picassos La fenêtre ouverte das erste Mal in einer Auktion – das Kunstjahr 2022 hatte es in sich. Nicht zuletzt bewegten auch der Krieg in der Ukraine oder gar die Klimakrise Museen und Galerien. Der Art.Salon blickt zurück auf die letzten zwölf Monate.

von Bettina Röhl, 20. December 2022

Von der Klima- bis zur Psychokrise

Nachdem fast alle Corona-Maßnahmen der Vergangenheit angehören, eröffnen die Ausstellungshäuser das Kapitel 2022 gleich mit den ganz großen Themen: Die Kunsthalle Basel widmet sich mit der immersiven Installation  Pedro Wirz. Environmental Hangover der Klimakrise, während die National Gallery London Thomas Gainsboroughs schmerzlich vermisstes The Blue Boy nach genau hundert Jahren für eine Ausstellung wieder begrüßt. Die Hälfte dieser hundert Jahre währte Francis Bacons Schaffen, das die Royal Academy of Arts im Januar mit Francis Bacon: Man and Beast ehrte. Sie blickte dabei auf Bacons Grenzdarstellungen zwischen Mensch und Tier. 

Pedro Wirz, Studioansicht, Blick auf Coro das Princesas, 2021
Foto: Saskja Rosset
Pedro Wirz, Studioansicht, Blick auf Coro das Princesas, 2021

Das Jahr 2022 stand außerdem ganz unter dem Stern der 2010 verstorbenen Louise Bourgeois, die sich mit der Kunst selbst therapierte und mit ihrem Vater abrechnete. Den Auftakt machte die Hayward Gallery im Southbank Centre in London: Am 9. Februar widmete sie sich in Louise Bourgeois: The Woven Child dem letzten Schaffensabschnitt der Künstlerin. Die Ausstellung versammelt Bourgeois' Textilarbeiten – und zog im Herbst nach Berlin weiter. Auch andere Museen und Galerien beschäftigten sich dieses Jahr mit Kunst und Psyche gebürtigen Französin, darunter das Kunstmuseum Basel.

Louise Bourgeois, The Destruction of the Father, 1974, Archival polyurethane resin, wood, fabric and red light
Foto: Johee Kim
Louise Bourgeois, The Destruction of the Father, 1974, Polyurethanharz, Holz, Stoff und Rotlicht

Macht und Geld

Am 1. März stand Picassos La fenêtre ouverte das erste Mal in einer öffentlichen Auktion zum Verkauf. Für 16.319.500 britische Pfund wechselte es den Besitzer – Zeitgenosse Magritte rutschte beinahe zeitgleich mit L’empire des lumières bei Sotheby’s für 59.422.000 britische Pfund auf der Weltrangliste nach oben; es ist der aktuelle Rekord für ein Magritte-Werk. 

Picasso\'s »La fenêtre ouverte«
© Christie’s Images Limited 2021
Picasso's »La fenêtre ouverte«

Erst Ende Februar hatte Putin der Ukraine den Krieg erklärt. Schon im März übte die Streetartszene in St. Petersburg subversiven Protest gegen den Kreml-Chef. Die russische Künstlergruppe yav inszenierte eine Grafik öffentlich in St. Petersburg. Sie spielt mit dem Bild zweier Grafen: Sie verkörpern Hoffnung (blau) und Angst (rot), die die innen- und außenpolitischen Ereignisse Russlands der vergangenen Jahre nachzeichnen. Nun, nach dem Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine, erreichen sie ein neues Höchstmaß an Angst und Hoffnungslosigkeit. 

Artist Group yav - Hope and Fear
Courtesy yav, Instagram
Artist Group yav, Hope and Fear

Newcomer und alte Löwen

Pünktlich zum Frühling startete die 59. Biennale von Venedig. Am 23. April überreicht das Gremium den Goldenen Löwen an die US-Amerikanerin Simone Leigh (*1967) als beste Künstlerin in der Hauptausstellung The Milk of Dreams, an die Britin Sonia Boyce (*1960) für den besten Pavillon. 

Der Silberne Löwe für das beste Nachwuchstalent ging an den Libanesen Ali Cherri, während Lynn Hershman Leeson und Shuvinai Ashoona sich über die lobenden Erwähnungen in der Hauptausstellung freuen durften. Unter den gelobten Pavillons befanden sich Frankreich und Uganda, das zum ersten Mal an der Biennale teilnahm. 

Simone Leigh_Golden Lion for the Best Participant
Foto von Andrea Avezzù, Courtesy La Biennale di Venezia
Simone Leigh, Goldener Löwe beste Künstlerin

In Nizza feierte die Nice Art Expo im Palais des Expositions zu dieser Zeit ihr Debüt. 150 Künstlerinnen und Künstler waren auf der Messe vertreten. Außerdem erkor der Wettbewerb Young Talents of Contemporary Art acht junge Autodidaktinnen und Autodidakten und Kunststudierende aus Frankreich dazu aus, frei von Vorgaben ausstellen zu dürfen.

Legenden 

Alles neu macht der Mai – zumindest was die Rekordwerte angeht. Das Auktionshaus Christie's versteigerte einen der berühmt-berüchtigten Marylin-Monroe-Drucke von Andy Warhol für 195 Millionen US-Dollar – ein neuer Höchstwert für den längst verstorbenen Pop-Art-Titan. Das entscheidende Gebot gab Larry Gagosian für Shot Sage Blue Marilyn (1964) ab. Während eine allgegenwärtigen Legende wie Warhol mit Millionen-Beträgen Schlagzeilen machte, entdeckte das Mimosa House in London eine vergessene wieder: Die Ausstellung The Baroness ließ die Dadaistin Elsa von Freytag-Loringhoven wieder aufleben – in den 1920er Jahren galt die Burlesque-Tänzerin und das Aktmodell als Legende der New Yorker Szene, später verschwand sie unter dem Renommee anderer. Retrospektiv gab man ihr die Beinamen »Die erste amerikanische Dada«, »New Yorks erste Punk« oder »die Großtante der feministischen Performance Art«. Potenzial zu einer neuen Legende sah das Contemporary Arts Museum Houston in Amoako Boafo. Am 27. Mai weihte es mit Amoako Boafo: Soul of Black Folks die erste museale Einzelschau  des ghanaischen Künstlers ein. 

Amoako Boafo, Golden Frames (2018)

Amoako Boafo

Golden Frames

Found at Phillips, Hong Kong Auction
20th Century & Contemporary Art & Design Day Sale in Association with Poly Auction, Lot 118
29. Nov - 29. Nov 2021
Estimate: 800.000 - 1.200.000 HKD
Price realised: 3.024.000 HKD
Details

Skandal des Jahres

Alle fünf Jahre wieder kommt die documenta nach Kassel. Der Juni war damit der Hoffnungsträger des Kunstjahres 2022. Die documenta fifteen sollte ganz anders werden als alle Vorgänger: Erstmalig hielt ein Kollektiv die Zügel in der Hand, die ruangrupa aus Indonesien. Die Leitmotive bauten auf Gemeinschaft, ein Ökosystem sollte entstehen, Geld nebensächlich sein. Am Ende war es beim Geld dann auch tatsächlich so. Am 18. Juni öffnete die documenta fifteen ihre Pforten – allerdings anders als erhofft: Antisemitische Bildsprache trübte das lumbung-Konzept der ruangrupa schon am ersten Tag. Ein riesiges Banner des Kollektivs Taring Padi zieht die gesamte negative Aufmerksamkeit auf sich. Später folgte die Broschüre Presence des Femmes der beiden Künstler Burhan Karkoutly (1933–2003) und Naji Al-Ali (1937–1987) – auch sie enthielt eindeutige antisemitische Darstellungen. Ein Schatten legte sich über »das Museum der 100 Tage«, das doch eigentlich als neugeborene documenta in Erinnerung bleiben sollte. 

documenta fifteen, ruangrupa, back row f.l.t.r.: Iswanto Hartono, Reza Afisina, farid rakun, Ade Darmawan, Mirwan Andan; front row f.l.t.r.: Ajeng Nurul Aini, Indra Ameng, Daniella Fitria Praptono, Julia Sarisetiati at the installation Vietnamese Immigrating Garden by Tuan Mami (Nha San Collective)
Foto: Nicolas Wefers
documenta fifteen, ruangrupa, back row f.l.t.r.: Iswanto Hartono, Reza Afisina, farid rakun, Ade Darmawan, Mirwan Andan; front row f.l.t.r.: Ajeng Nurul Aini, Indra Ameng, Daniella Fitria Praptono, Julia Sarisetiati at the installation Vietnamese Immigrating Garden by Tuan Mami (Nha San Collective)

Zum zweiten Teil unseres Rückblicks geht es hier entlang.Art.Salon

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Jahresrückblick 2022 Teil II: Juli bis Dezember

Proteste gegen Gastprofessoren, Klimaaktivismus im Museum und der Blick des Menschen auf sich selbst: Nach der Corona-Pandemie steht die Welt angesichts des Krieges, der Inflation und Klimaveränderungen vor einem Wandel. Auch die Kunstwelt ist eng mit diesen politischen Entwicklungen verbunden. Der Art.Salon blickt zurück auf die letzten zwölf Monate.

von Marius Damrow, 21. December 2022
Till Schermer

Ist unsere Persönlichkeit nur eine Illusion? Die Malereien von Till Schermer eröffnen eine neue Perspektive auf die fragmentarische Psyche des Menschen. In intensiven, mitunter irritierenden Bildern lässt der Künstler die Akteure unserer mentalen Gesellschaft auftreten – vielleicht ein Aufbruch zu einem Abenteuer für den eigenen Verstand.

von Felix Brosius, 26. November 2024