Unheimlicher Alltag
Von 12.000 auf 1,5 Millionen US-Dollar in zwei Jahren: Das Gemälde Summertime (2020) katapultierte Anna Weyant in die oberste Liga der Kunstwelt. Sie ist die jüngste Künstlerin der Gagosian-Galerie, die Warteliste für ihre Werke umfasst mehrere hundert Namen. Sie ist der Rising Star des Jahres.
10. Mai 2022: Das Gemälde Summertime (2020) eröffnet die Auktion 21st Century Evening Sale bei Christie’s New York. Es zeigt eine junge Frau, die ihren Kopf auf eine Tischplatte gelegt hat. Ihr glänzendes, perfekt gekämmtes Haar breitet sich wie ein Fächer auf dem Holz des Tisches aus, ihre Augen sind halb geschlossen. Die Frau scheint in Gedanken versunken, melancholisch. Neben ihr ein simples Blumengesteck in einer dunklen Vase. Die Blumen sind bereits braun, sommerliche Atmosphäre kommt nicht auf. Das Gemälde ist insgesamt Brauntönen gehalten, der Hintergrund schwarz. Es mutet wie ein Werk der Frühen Neuzeit an, Kunstkritiker heben das technische Können der Urheberin hervor. Intensiv befasst sie sich mit menschlichen Emotionen, unheimlichen Gedanken und Situationen sowie modernen Absurditäten. Die Zustimmung des Publikums ist beachtlich.
Die Malerin Anna Weyant kann die Auktion nicht mit ansehen, zu nervös ist sie. Nach acht Minuten melden sich ihre Freunde, Summertime verkauft sich für 1,5 Millionen US-Dollar. Das ist fünfmal höher als der Schätzpreis, der bereits deutlich über den 12.000 US-Dollar lag, für die Weyant es kurz nach der Entstehung verkauft hat. Nur wenige Tage später bringt Falling Woman (2020) bei Sotheby’s 1,6 Millionen US-Dollar ein. Seither ist die junge Künstlerin der Star in New York.
Auf Instagram entdeckt
Weyant stammt aus Calgary, der viertgrößten Stadt Kanadas, wo sie 1995 geboren wurde. Nach ihrem Bachelor-Abschluss in Malerei 2017 an der Rhode Island School of Design studierte sie Malerei an der China Academy of Art in Hangzhou. Die sepiafarbene Landschaft um die 12-Millionen-Stadt bestimmt ihre Farbauswahl bis heute, ihre pastosen Pinselstriche glätteten sich über die Zeit. Nach sieben Monaten in China zog sie nach New York. Dort arbeitete sie als Studioassistentin für die Künstlerin Cynthia Talmadge, während sie ihre eigenen Werke schuf. »Ich war neu, verwirrt und hatte Heimweh in dem neuen Land, und ich hatte einfach Angst. Ich erinnere mich, dass ich dachte, wenn ich meine Ängste auf die Frau, die ich malte, übertragen könnte, hätte ich wenigstens eine weitere Person im Gespräch mit mir«, erzählte sie in einem Interview mit dem Wall Street Journal.
Auf Instagram postete sie Bilder ihrer Gemälde, die dem Kunstkritiker Jerry Saltz auffielen. Dessen Reposts führten zu Weyants Bekanntheitsgrad und 2019 zu ihrer ersten Soloausstellung in der Galerie 56 Henry. Die gezeigten Arbeiten in Welcome to the Dollhouse verkauften sich für 2.000 bis 12.000 US-Dollar pro Stück.
Frauen und Stillleben in Sepia-Tönen
»Am Anfang steht meist nur eine Idee. Ich skizziere es in meinem Kopf und dann auf verschiedene Arten auf Papier. Dann fotografiere ich es entweder oder male es als Stillleben«, erklärt Weyant ihre Arbeitsweise. Eine gedämpfte Farbpalette bestimmt ihre Arbeiten: Grün-, Braun- und dunkle Rosatöne erscheinen oft vor dichtem Schwarz. Die meist jungen, weiblichen Figuren sind Teil tragikomischer oder ironischer Geschichten, manchmal mit traumartigen Elementen. Sie stellen Weiblichkeit in der zeitgenössischen amerikanischen Gesellschaft dar, verblassen aber nicht zu Symbolen. Die Figuren bestechen durch sensible Gefühlsdarstellungen, die sie individuell und auch geheimnisvoll machen.
Die kanadische Künstlerin vermengt persönliche Erfahrungen aus dem 21. Jahrhundert mit malerischen Traditionen, vornehmlich aus dem 16. und 17. Jahrhundert. Sie nennt etwa die Niederländer Frans Hals (1582-1666) und Judith Leyster (1609-1660) als Inspiration. So verwundert es nicht, dass ihr Œuvre eine Reihe von Stillleben mit irritierenden oder ironischen Nuancen umfasst.
In Buffet (2020) beispielsweise reihen sich vor schwarzem Grund eine von selbst aufrecht stehende Brotscheibe mit Messer, ein Korb mit Eiern sowie zwei Fische – wohl Piranhas − auf einem Silbertablett auf einem Tisch. Dieser ist mit einem weißen Tuch bedeckt. Das Büfett wirkt uneinladend und spärlich, nicht wie seine jahrhundertealten Vorbilder, die Prunkstillleben aus dem Goldenen Zeitalters der Niederlande.
Die angedeutete Gewalt – das zerdrückte Brot, in das das Messer anscheinend gerammt wurde, die aufgetürmten Eier und die toten Piranhas, die hauptsächlich Aasfresser und durch Erzählungen gefährlicher wirken, als sie sind – erzeugt eine unheimliche Atmosphäre. Nahrung ist im 21. Jahrhundert im Übermaß vorhanden, doch angesichts der 800 Millionen Hungernden ist das globale System wahrlich kein Büfett für alle, die Verteilung funktioniert nicht. Man darf wohl annehmen, dass sich Weyant, deren Bezüge auf historische Malerei offensichtlich sind, nicht zufällig die drei Lebensmittel darstellt, die für ihre christliche Symbolik bekannt sind. Das Bild ist als Kommentar zur schwindenden Macht des Christentums lesbar, eventuell als Aufruf zur Besinnung auf die Werte dieser Religion?
Gagosians jüngste Künstlerin
2021 repräsentierte zuerst die Galerie Blum & Poe in Los Angeles Weyant. Bis zu 50.000 US-Dollar bezahlten Sammler damals für ihre Gemälde. Kurz vor den aufsehenerregenden Auktionen im Mai 2022 wechselte sie zur Gagosian-Gallery, einer der bedeutendsten Kunstgalerien der Welt. Insgesamt hat Weyant bisher über 2 Millionen US-Dollar mit ihren Gemälden verdient. »Die Leute gratulierten mir ständig. Alles, was ich fühlte, war Druck«, kommentiert sie ihren schnellen Aufstieg.
Tatsächlich wäre sie bei weitem nicht die erste Künstlerin, die man als One-Hit-Wonder bezeichnen könnte. Auch Jerry Saltz äußerte Bedenken zu ihrer Erfolgsgeschichte. Von ihrem Händler Larry Gagosian verspricht sich Weyant Expertise und Beistand. Bei einer Warteliste von mehreren hundert Personen eine kluge Überlegung. Sie ist die jüngste Künstlerin, die Gagosian vertritt. In den Schlagzeilen gerieten die beiden in letzter Zeit wegen Gerüchten um eine Beziehung. Gagosian sagte dazu, dass er die Malerin gleich behandelt wie alle anderen Klienten.
Jüngste Auktionsergebnisse von Anna Weyant
Ungeduldig erwartet New York die erste Gagosian-Ausstellung der Künstlerin. Baby, It Ain't Over Till It's Over eröffnete am 3. November 2022 und stieß auf gemischte Kritiken. Weyant blieb ihrer bisherigen Linie treu, was manche als fehlende künstlerische Innovation bemängelten. Andererseits steht die etwas zurückhaltende Ausstellung als Zeichen für den Beginn einer sich langsam entwickelnden Karriere, die nicht hinter dem nächsten großen Geldsegen herjagt.
Auf dem Auktionsmarkt haben sich ihre Werke indessen bei einer Preisspanne zwischen 300.000 und 500.000 US-Dollar eingependelt – immer noch bis zu 100.000 US-Dollar über den Schätzpreisen. Am 17. November erreichte mit Loose Screw (2020) erneut ein Bild die 1,5 Millionen-Marke. Es bleibt spannend, wie sich der Kunststar des Jahres 2022 in der kommenden Zeit entwickeln wird. Eine zeitnahe Teilnahme an der Biennale von Venedig ist von Experten der Kunstwelt bereits vorausgesagt.
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