
Die stille documenta
Mehr Beteiligte, mehr Gemeinschaft, mehr Leben – weniger Pomp, weniger Ästhetik, weniger Verschwendung: Morgen fällt der Startschuss zur documenta 15. Erstmals hält dabei ein Kollektiv die Zügel in der Hand – es verzichtet auf millionenschwere Kunst und baut stattdessen lieber ein Ökosystem.

Morgen ist es so weit. Nach fünf Jahren reiht sich die documenta 15 in den Weltkunstausstellungsturnus ein. Details werden Besuchende wohl frühestens morgen erfahren. Was man allerdings vorwegnehmen kann: Es wird anders als sonst. Das leitende Kollektiv, die ruangrupa, setzte die documenta 15 unter das Motto lumbung – eine gemeinschaftlich genutzte Reisscheune. Die darin gelagerte überschüssige Ernte kommt der Allgemeinheit zugute.
Es wird eine documenta, die auf Hochkaräter, pure Ästhetik und schwer verdauliche theoretische Grundlagen verzichtet. Stattdessen schmückt die ruangrupa Kassel mit organischer Kunst, in der das Leben zu sich selbst findet. Besuchende werden zu Benutzenden: Eine intakte Komposttoilette nahe der Orangerie, zu der man über eine Wendeltreppe gelangt, ist keine reine Kunst. Wer möchte, darf den Gang tatsächlich wagen. In diesen ökologisch-produktiven Gedanken klinkt sich auch der Komposthaufen in der Karlsaue ein. Er fungierte schon 2012 als Kunstobjekt und wurde nun reaktiviert.
Genauso geht es weiter. Es gibt eine vietnamesische Sauna, Konzerte, Workshops oder gemeinsames Kochen. Auch wenn einige Werke sich durchaus gesellschafts- bzw. wirtschaftskritisch zeigen, in dem sie Bienen- oder Milchwirtschaft beleuchten und Vorschläge zur Kollektivierung von Äckern und Wäldern liefern, entsteht im Fridericianum, dem documenta-Zentrum, ein gemeinschaftliches Wohnzimmer mit Sofas, selbstgebauten Regalen und einem Spielbereich für Kinder. Ohne Performance-Druck und mit viel lumbung.
Laut Zeit-Redakteur Hanno Rauterberg solle man die von ihm als »wildwüchsig« betitelte documenta »als Versuch verstehen, nach eigenen Regeln ein Ekosistem zu errichten, wie sie das nennen, eine Form von Kreislaufwirtschaft, gerecht und möglichst unabhängig vom Staat.«

32 Ausstellungsstätten gibt es laut Handbuch auf der documenta 15 – an ungewöhnlichen Orten wie Unterführungen und einer Brücke. Spekulationen über die beteiligten Künstlerinnen und Künstlern schwanken zwischen 1.500 und 1.700. Mag vielleicht auch an den unzähligen Kollektiven liegen, die die ruangrupa als Spiegel ihrer selbst aussuchte. Die höchste Beteiligtenzahl lag jedenfalls bisher im Jahr 1977, da waren es etwas über 600. Besuchende erwartet die Kunstveranstaltung etwa eine Million. Das kommt nahe an die rund 900.000 der letzten beiden documenta-Ausgaben ran.
Das Tagesticket kostet für Erwachsene 27 Euro. Rauterberg betont das »Geschmäckle«, das sich aus der Kluft zwischen Preis und lumbung-Konzept gebiert: »Wo Ethik und Ästhetik, Leben und Kunst in eins fallen, gerät das Dasein selbst allzu leicht zum voyeuristisch bestaunten Objekt.« Man befürchtet, dass reiche Menschen die »leidensfähige Aufrichtigkeit« bestaunen und beklatschen könnten, und die ruangrupa als »authentische Stimmen kriegsgebeutelter Regionen« verstanden werden.
Die ruangrupa selbst sieht ihren Auftrag aber bereits als erfüllt: Lumbung habe sie schon bei der Vorbereitung erlebt, geteilt habe sie im Vorfeld Erfahrung, Geld und Kontakte.
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