Emilie Cognard

Spuren fließender Vergänglichkeit

Emilie Cognard arbeitet mit Tusche, Wasser und Papier und erschafft mit diesen einfachen Mitteln hochkomplexe Zeichnungen von ausgeprägter Tiefe.  Mit ihren Arbeiten hinterfragt sie den Begriff der Leere, noch mehr aber unseren genormten Blick auf die Welt. Das Ergebnis sind ausgesprochen feine Kompositionen, hochkonzentriert, fließend, amorph, von hoher Dynamik und doch fast kontemplativ.

von Felix Brosius, 14. March 2022
Die Künstlerin Emilie Cognard
Emilie Cognard im Atelier

Es gibt Phänomene, die sind für den menschlichen Verstand nicht fassbar. So etwa die Ewigkeit, die Unendlichkeit oder auch die vollständige Leere. Wir alle wissen, dass ein »leerer Raum« uns nur leer erscheint, tatsächlich ist er bis in den letzten Winkel gefüllt mit Luft, lediglich für unsere Sinne kaum wahrnehmbar. Doch was bliebe, wenn nichts mehr wäre? Was ist da, wo nichts ist? Dieser Frage spürt Emilie Cognard in ihren skripturalen Tuschezeichnungen nach. Den Ausgangspunkt ihrer informellen, abstrakten Arbeiten bildet dabei stets die Leere selbst, repräsentiert durch ein leeres Blatt Papier. In unserer übersättigten Welt, die stets bemüht scheint, jede Ressource zu verwerten und jede Stille zu bespielen, kommt ein leeres Blatt fast schon einer Provokation gleich, für Cognard hingegen ist es ein Fenster in eine verborgene Welt unzähliger Möglichkeiten, die sie erforschen, aufdecken und sichtbar machen möchte.

»Eine weiße Seite ist für mich nicht leblos und leer, sondern die Möglichkeit, in eine sonst nicht sichtbare Welt einzutauchen, sie zum Vorschein zu bringen. Die sich dabei ergebenden Möglichkeiten sind unendlich, sodass die Leere im Grunde viel dichter ist, als wir in unserer überfrachteten Welt gemeinhin wahrnehmen.«

Graphein – schreibendes Zeichnen

Die von der Künstlerin freigelegten Welten werden dem Papier regelrecht eingeschrieben. Alles beginnt mit einer einzelnen Linie, die Cognard in Tusche auf einem mit einer Wasserschicht überzogenen Blatt zieht. Die Linie beginnt schnell, sich aufzulösen, zu verwischen, hinterlässt dabei Spuren, denen Cognard in ihren weiteren Zeichenbewegungen folgt. »Die Linien und ihre Verläufe leiten die gesamte weitere Arbeit.«, wie sie es selbst formuliert. Auf dem Papier entfaltet sich so nach und nach eine komplexe Welt, die eine der zahlreichen Möglichkeiten sichtbar macht, die das leere Blatt bereits die ganze Zeit als Option bereithielt. Wie bei Schrödingers Katze trifft Cognard durch Ihr Nachspüren die Entscheidung, welche der möglichen Welten auf dem Papierbogen zur Realisation kommt.

»Der gezeichnete Strich ist ein Akt der Öffnung auf ein Anderswo, ein Versuch, das Verborgene zu entdecken, das Unsichtbare in dem Moment, in dem sich meine Hand zurückzieht, sichtbar werden zu lassen.«

Die Arbeiten bleiben bis zum Schluss abstrakt, stellen nichts dar, folgen einer intuitiven Idee. Und doch sind sie ebenso konkret wie das geschriebene Wort. Ohne Kontext ist auch jeder Buchstabe nur die Abbildung eines abstrakten Zeichens, ein Sinn erwächst erst aus der Konvention über die Deutung. Cognard greift in ihren Arbeiten nicht auf vorhandene Strukturen, Zeichen und Elemente zurück, sie erschafft sich ihre Bildmittel selbst, arbeitet sich ausgehend von dem einzelnen Strich tastend sehend immer weiter vor. Zeichnen und Schreiben sind für sie eins, verschmelzen zu derselben Handlung, was bleibt, sind Spuren, die sich auf vielfältige Weise lesen lassen, eine Arbeitsweise ganz in Übereinstimmung mit den Betrachtungen zur Malerei von Derrida. So trägt ihre erste Werkserie, in der sie diesem Gedanken folgt, den Titel Graphein, ein Verb, das im griechischen gleichermaßen für Schreiben und Zeichnen steht und bei Derrida zum Grundelement der Bildgestaltung wird.

Emilie Cognard - Graphein vu/3c
Graphein vu/3c, 2021

Obsession mit der Stille

Emilie Cognard, 1983 in Frankreich geboren, studierte in Paris Kunst, Szenografie und Architektur. Auf allen drei Feldern ist die heute in Berlin lebende Künstlerin auch tätig, wobei die Grenzen in ihrer Arbeit verschwimmen, sie sich, ganz gleich, welcher Disziplin sie gerade folgt, stets von den gleichen Fragen leiten lässt. Die leere Bühne ist für sie ebenso ein Möglichkeitsraum, den es zu erforschen und bespielen gilt, wie das leere Blatt Papier, die Stille zu Beginn der Theateraufführung ein Fenster, das einlädt, die Interpretation eines Stückes zur Aufführung zu bringen.

Immer wieder sucht und schafft sie Räume der Leere als Füllhorn opulenter Möglichkeiten. Für sie ist dies ganz wesentlich der Versuch, »das Rätsel des Schweigens zu lösen«, das bereits ihre Kindheit geprägt hat. Intuitiv suchte sie eine Handhabung, die Leere als Reichtum an Möglichkeiten zu erkennen, das Unausgesprochene zu verstehen. In ihren Werknotizen aus dem Jahr 2020 ist zu lesen: » Wenn ich meine Zeichnungen betrachte, scheint es mir, dass meine Kindheit durch sie hindurchgeht. Ich glaube, dass die Leere und das Unregelmäßige meine Netzhaut und meine Seele durchdrungen haben.«

Die Spuren der Spuren

So hinterlässt auch die Leere ihre Spuren, aus der neue Welten erwachsen. Für Cognard sind diese Spuren ein Echo der Vergangenheit und dabei selbst ganz flüchtig, beim Entstehen schon wieder in Auflösung begriffen, aber nicht, ohne weitere Spuren zu hinterlassen, die wieder ein ganzes Universum an neuen Möglichkeiten eröffnen. Diesen Spuren der Spuren folgt Cognard in ihrer Werkserie Impression Papier Peau, die auf mehrlagigem Karton entsteht: Nach dem Anfertigen einer Tuschezeichnung auf der äußersten Haut des Kartons löst sie die oberste Papierschicht ab und arbeitet weiter mit den Spuren, die diese Zeichnung auf der darunterliegenden Papierschicht hinterlassen haben, folgt ihren Mustern und Verläufen, entwickelt diese zu einer neuen komplexen Zeichnung. Daraus erwachsen ausgesprochen feine, filigrane, geradezu zerbrechlich wirkende Kompositionen von hoher Anmut, fließende Formen, festgehalten in der Bewegung, wie unentschlossen an der Schwelle zwischen Auflösung und Manifestation.

Emilie Cognard - Impression Papier Peau vu/13cc
Impression papier-peau vu/13cc – Spuren unter der äußersten Haut eines Kartons

Dieser Ansatz ließe sich nun immer weiter perpetuieren, man könnte nicht nur die Spuren der Spuren, sondern auch deren Spuren verfolgen, doch Emilie Cognard geht den umgekehrten Weg, legt einen weiteren »Layer« über die erste Zeichnung und prägt diese mit den Abdrücken von Vergangenem. So entsteht eine Werkserie, in der sie die oberste Lage des Kartons mit einer Seite von Todesanzeigen aus der Zeitung Le Monde bedeckt, die einzelnen Buchstaben der Anzeigen mit einem in Tusche getränkten Skalpell ausstanzt, anschließend die Zeitung und die oberste Kartonschicht wieder entfernt, diese anschließend gemeinsam mit der darunter zum Vorschein gekommenen zweiten Papierlage auf einen weiteren Karton presst und die sich so ergebenden Abdrücke abschließend mit Graphitpulver gleichzeitig verstärkt und bedeckt. Auf diese Weise haben die Verstorbenen ihre Spuren über die Todesanzeige bis in die untere Papierschicht hinterlassen, die nun über mehrere Ebenen geprägt wurde: Das gelebte Leben wird zu einer Geschichte, übersetzt in Sprache, niedergeschrieben in der Zeitung, übertragen auf den Karton, durchwirkend bis zu dem darunterliegenden Blatt, auf dem daraus eine neue Bildkomposition erwächst – es scheint fast wie eine grafische Übersetzung der Filmidee von Inception, eine parallele Fortschreibung über mehrere miteinander verflochtene Welten, die sich wechselseitig beeinflussen, untrennbar miteinander verbunden und jede für sich in höchstem Maße fließend, amorph, bereits bei Entstehung wieder in Auflösung begriffen.

Emilie Cognard - Qui précède la page météo et jeux, détail
Qui précède la page météo et jeux, Detail – Spuren von Schrift unter der äußersten Haut eines Kartons

Ein Akt des Widerstands als Einladung zum Experiment

Die Arbeiten von Emilie Cognard sind von Dauer und doch flüchtig im Ausdruck. Sie folgen damit der Idee des französischen Künstlers Ernest Pignon-Ernest, der zumeist menschliche Figuren aus Vergangenheit und flüchtiger Gegenwart nicht autorisiert an öffentlichen Orten wie Hauswänden oder früher Telefonzellen abbildet, sodass sie von Beginn an der Vergänglichkeit anheimgegeben sind, aber doch bleibende Eindrücke hinterlassen. Ebenso möchte auch Cognard mit ihrer Kunst bei dem Betrachter eine Resonanz erzeugen, ihn emotional erreichen, die Idee transportieren, dass die von uns wahrgenommene Realität nur eine von unzähligen Möglichkeiten ist. In diesem Sinne versteht sie ihre Kunst als einen Akt des Widerstands gegen eine homogene, eindimensionale Welt, als den Versuch, das Blickfeld zu weiten, den Reichtum an Möglichkeiten bewusst zu machen – und als Einladung, genau damit zu experimentieren, Stille und Leere nicht als Ödnis, sondern als Fenster zu neuen Welten zu begreifen.Art.Salon

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