Ein Mann liegt kraftlos unter einem Dornenbusch, das Gesicht mit Schmutz bedeckt, sein Kopf weiß wie ein Knochen. Ein unheimlich wirkender Mittelpunkt in einem sonst düsteren Bild. Der Mann wirkt gefangen, scheint erdrückt zu werden – oder ist vielleicht schon tot. Diese Schwarzweiß-Fotografie aus der Serie Erinnerungsspur aus den späten 1970ern stammt von Dieter Appelt, der selbst vor die Linse trat. Das Bild ist typisch für seine erste Schaffensphase von etwa 1960 bis in die Mitte der 1980er, in der er seinen Körper als Werkzeug zur Selbstgeißelung inszeniert und sich den Themen Tod, Vergänglichkeit und Wiedergeburt widmet. Auf einem anderen Bild der Serie Moorbegehung hockt ein Mann nackt auf einem labilen Gerüst aus dünnen Baumstämmen in einer Moorlandschaft, sein Blick auf das ruhige, aber bedrohlich wirkende Wasser gerichtet. Ein ursprünglicher Mensch, wie eine Kreatur kauernd, der mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln Schutz sucht. Viele Möglichkeiten bleiben ihm nicht, wie das Gerüst beweist.
Fotografie als Zeitskulptur
Nicht das Schnelle, nicht das Abbild, sondern die existentielle Suche nach dem Inneren interessieren Dieter Appelt bei seinen Fotografien. Über ein bemerkenswertes Œuvre der 1970er und 80er, das Fotografie und Performance miteinander verknüpft.
Appelt wurde 1935 im brandenburgischen Niemegk geboren und absolvierte neben einem Gesangsstudium auch ein Studium der Experimentellen Fotografie bei Heinz Hajek-Halke. Zunächst agierte Appelt 18 Jahre lang als Sänger an der Deutschen Oper Berlin, bevor er sich 1979 vollends den bildenden Künsten zuwandte. Appelt ist Fotograf und Aktionskünstler zugleich, sein Werk ist tief geprägt von Kindheitserinnerungen an den Zweiten Weltkrieg. Sein Körper ist auf den Fotografien bedeckt von Marmorstaub, Gips oder Schlamm, er wirkt mumienhaft, hängt an den Füßen von der Decke oder ist in technische Apparate eingespannt.
»Ich möchte in einem Bild die Zeit demaskieren«, sagt Appelt zu seinen Arbeiten. »Es geht mir darum, eine Abfolge von Bewegungen in einem einzelnen Bild übereinanderzulegen. Ich nutze die Zeit wie ein Mechaniker, montiere Erinnerungen und aktuelle Erfahrungen ständig übereinander… in einer Art Zeitmontage«. Eines von Appelts bekanntesten Werken – Der Fleck auf dem Spiegel, den der Atemhauch schafft (1977) − steht beispielhaft für sein Anliegen: Die Aufnahmen seines Atemhauchs auf einem Spiegel zerteilen einen flüchtigen Moment in konkrete Einzelaktionen.
Fotografie der Nachkriegszeit
Als diese Fotografien entstehen, beginnen viele europäische Museen gerade erst damit, fotografische Sammlungen aufzubauen. Der Fotografie haftete teilweise immer noch der Ruf an, keine Kunstform zu sein. Nach Kriegsende führt in Deutschland kein Weg an der subjektiven fotografie Otto Steinerts vorbei, der so wie Appelts Lehrer Hajek-Halke der avantgardistischen Arbeitsgemeinschaft fotoform angehörte. Sie knüpfte an die kreative Fotografie der 1920er an, die während des nationalsozialistischen Regimes verdrängt wurde, und nahm aktuelle internationale Trends auf. »Subjektive fotografie heißt vermenschlichte, individualisierte Fotografie, bedeutet Handhabung der Kamera, um den Einzelobjekten ihrem Wesen entsprechende Bildsichten abzugewinnen«, so Steinert.
Demgegenüber stehen ab den 1960er-Jahren die exakten, seriellen Darstellungen von Bernd und Hilla Becher. Ihre Zustandsaufnahmen von Gebäuden der schwindenden Kohleindustrie vertreten eine objektivierende Perspektive, die sich in der Fotografie langsam durchsetzt. Ende der 1970er unterrichten sie die Düsseldorfer Fotoschule, zu der viele heute berühmte Fotografinnen und Fotografen wie Andreas Gursky, Candida Höfer, Thomas Ruff und Thomas Struth gehören. Dieter Appelts Interesse an der Fotografie unterscheidet sich von beiden Strömungen erheblich, ist bildschöpferischer und experimenteller, weniger am Objekt orientiert.
Appelts besondere Methode
Appelts beschäftigt sich mit Tod und Trauma infolge des Zweiten Weltkriegs und wirft einen Blick in die Vergangenheit, die man besonders in Deutschland zu dieser Zeit nicht sehen wollte. Seine Verschränkung von Fotografie und Performance, die er nach Joseph Beuys »Aktionen« nannte, verkörpert einen Ansatz, der zwischen beliebten und in den Medien viel diskutierten Kunstrichtungen stand. Die Präsenz von Beuys, dessen mit Honig und Goldstaub bedeckter Kopf bei der Aktion Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt (1965) sicherlich prägend für Appelt war, beherrschte das mediale Interesse. Abseits der Medienpräsenz fand Appelt einen individuellen Weg für den Umgang mit verschwiegenen Themen – stets ein Zeichen großer Kunst.
»Ich schätze nicht so sehr das Abbilden oder die Schnelligkeit der Photographie, die unbestritten ihren Wert hat, den ich auch in keiner Weise anzweifle; aber, wenn ich zu einem Bild kommen will, dann habe ich im Grunde genommen sogar die gleichen Möglichkeiten, wie sie ein Maler hat. Und damit beschreite ich natürlich einen Weg, der mit etwas Innerem zu tun hat, mit etwas, was ich notiere, sozusagen, einen Zeitablauf, ich sondiere etwas, was natürlich mit dem Tod zu tun hat«, sagte Appelt in einem Interview von 2009.
Ab Mitte der 1980er, wenige Jahre nachdem Appelt als Professor für Film, Video und Fotografie an die Hochschule der Künste Berlin berufen wurde, wird sein Werk abstrakter und methodischer: Rotierende Objekte, Landschaften und Architekturen fungieren nun als Motive. Appelt experimentiert in seinen Tableaus, die aus mehreren hundert Einzelfotografien etwa von einer Brücke bestehen, mit dem Prozess der Fotografie selbst. Er erweitert die visuelle Wahrnehmung des Menschen, die das Auge nicht zu bieten vermag.
Retrospektive und aktuelle Zeichnungen
Die große Retrospektive Appelts im Art Institute of Chicago 1994, die auch in New York, New Orleans, Québec und Berlin zu sehen war, titulierten Kritikern als Highlight des Jahres. Die finsteren, komplexen Fotoarbeiten faszinierten und erinnerten aufgrund ihrer Anleihen an eine wissenschaftliche Untersuchung: Sie romantisieren nicht das Grauen, sind dennoch expressiv, wecken Interesse statt Furcht. Zweimal nahm Appelt in den 1990ern an der Biennale Venedig teil. Er gilt als Suchender, dessen Beitrag zur deutschen Kunstgeschichte im Ausland eher verstanden wurde als in seiner Heimat – weil er sich der Vergangenheit nicht verschloss, sondern sie auf neuem Wege zu ergründen versuchte.
In den letzten Jahren knüpfte Appelt wieder an seinen Ausgangspunkt, die Welt von Musik und Geräuschen, an. Er fertigt Zeichnungen, für die er während des Entstehungsprozesses ein Klangbild im Kopf hat. Ton und Linienführung beeinflussen sich gegenseitig und formen gemeinsam ein Kunstwerk. Appelts Zeichnungen können aber auch als eigenständige Werke gesehen werden, die auf ein unbekanntes »Mehr« verweisen. Die Vertonung orientiert sich dabei nicht an klassischen Instrumenten, sondern an Geräuschen und Schwingungen, die Appelt mit aufgezeichneten Weltraumgeräuschen der NASA vergleicht. Ein spezielles Gerät ertastet mit einem Laserstrahl die Zeichnungen und erstellt die Klangbilder mit hellen und dunklen Stellen und der Dicke der Schraffur. Appelt betritt erneut eine unbekannte Welt, die zu erforschen er sich zur Aufgabe gemacht hat.
Weitere Artikel zum Thema Features
Vom Land getragen – auf der Suche nach Heimat
Vom 13. bis 30. November fand in Australien nahe Perth die Fremantle Biennale statt, bei der der Fokus auf ortsspezifische zeitgenössische Kunst liegt. Unter den ausstellenden Kunstschaffenden war auch Raki Nikahetiya mit einer sensorischen Installation über die Verflechtung von Identität, Vertreibung und Heimat.
Elementarformen des Lebens: Ria Groenhofs skulpturale Bildsprache
Seit 40 Jahren ist die niederländische Künstlerin Ria Groenhof, die auch den Künstlernamen Atelier 85 verwendet, freischaffend tätig. Ob monumentale Skulptur im öffentlichen Raum oder Gemälde auf Leinwand: Ihr Werk verbindet die Klarheit der Geometrie mit existenziellen Fragen. Der Art.Salon stellt das vielseitige Schaffen der Künstlerin vor.
Malen für den Erhalt der Artenvielfalt
Vom 14. bis 27. November zeigt Elvira Flamm aus dem Künstlerprogramm des Art.Salon in der Charity Art Gallery in Stockholm acht Arbeiten ihrer Serie Fading Life, in der sie sich mit bedrohten Tier- und Pflanzenarten auseinandersetzt. Die Werke stehen zum Verkauf wobei 10 % des Erlöses an den World Wide Fund For Nature (WWF) gespendet werden. Die Künstlerin selbst spendet zusätzliche 20 %.
Zwischen Auflösen und Werden
Petra Jaenickes fotografische Arbeiten entziehen sich einer schnellen Lesbarkeit. Sie sind poetische Illusionen, Analysen der stets subjektiven Realität, geformt von Erfahrungen und Emotionen. Unter dem Begriff »Dekonstruktivistische Fotografie« legt die Künstlerin in ihren vielschichten Fotocollagen neue Ebenen der Wahrnehmung offen.
Dive deeper into the art world
Inszenierte Wirklichkeiten
Erstmals seit über 25 Jahren gibt es wieder eine große Ausstellung zu Jeff Wall in Kanada: Das Museum of Contemporary Art Toronto präsentiert in Jeff Wall Photographs 1984–2023 über 50 Arbeiten des renommierten Künstlers. Die Ausstellung läuft noch bis zum 22. März 2026.