Susannah Martin

Die Entfremdung des Menschen von der Natur

Susannah Martin ist eine figurative Malerin, die sich einem klassischen Sujet widmet, dem Akt in der Natur. So traditionell wie diese Verortung klingt, so überraschend, frisch und ungesehen sind ihre Arbeiten. Handwerklich brillant, auf den ersten Blick nie leise, auf den zweiten mit ungeahnter Tiefe.

von Felix Brosius, 11. October 2021
Die Künstlerin Susannah Martin im Atelier
Susannah Martin im Atelier

Die unberührte Natur gilt vielen als Sehnsuchtsort, fern von der Zivilisation verspricht sie individuelle Freiheit, erlaubt dem Menschen, alle Künstlichkeit abzulegen, sich auf sein natürliches Wesen zurückzubesinnen, ganz reduziert auf das eigene Sosein. In der Malerei hat diese romantische Vorstellung mit dem Akt in der Natur ein eigenes Sujet hervorgebracht, das von der Höhlenmalerei bis heute in unzähligen Variationen immer wieder neu interpretiert wird. Offenbar ein alle Zeiten überdauerndes Thema, und doch stellt sich die Frage, ob die idyllische Vorstellung eines Menschen im Einklang mit der Natur im 21. Jahrhundert noch eine Verankerung findet. Kann der Mensch noch mit der Natur verschmelzen, findet er sich dort überhaupt noch zurecht oder ist sie ihm mittlerweile als Lebenswelt vollkommen fremd? Dieser Frage geht Susannah Martin in ihren oft großformatigen, figurativen, mitunter hyperrealistisch anmutenden Ölgemälden nach, und sie scheint einer Antwort auf der Spur zu sein.

»Brüchig erscheint mir als das richtige Wort, um unser Verhältnis zur Natur zu beschreiben, brüchig und unsicher.«

Die Natur, ein »Un-Heim« des Menschen

Auch Martins Bilder zeigen das klassische Sujet des Akts in der Natur, allerdings in bisher ungesehener  Weise, zeitgenössisch interpretiert in einem ganz eigenen Stil. Das romantische Verschmelzen von Mensch und Natur sucht man in ihren Darstellungen ebenso vergebens wie den verklärten Liebreiz eines lauschigen Rendezvous. Vielmehr weisen die Personen, überwiegend Frauen, eine enorme Präsenz auf, drängen in den Vordergrund, heben sich von der Landschaft ab. Sie wirken mitunter wie Fremdkörper in der Natur, im besten Fall neugierig forschend, unbekanntes Terrain erkundend, dann aber auch wie Eindringlinge, die trotz aller Nacktheit nicht nur an ihrem zivilisatorischen Habitus, sondern ebenso  an ihren Requisiten aus dem hedonistischen Konsumzeitalter festzuhalten scheinen.

Susannah Martin, Schmetterling, 100 x 150cm, 2019
Schmetterling, 2019

Der Mensch, ganz auf sich reduziert, scheint in der Natur verloren, so der Eindruck, der sich bei Susannah Martin früh eingestellt hat, als sie sich dem Sujet zuwandte: »Bei der Arbeit an meinen ersten Bildern des Aktes in der Landschaft habe ich sehr schnell festgestellt, wie merkwürdig der gegenwärtige Mensch in der freien Natur wirkt. Er schien einfach nicht mehr hineinzupassen, und so wurde dieser Aspekt langsam zu meinem Thema: Die Natur als Un-Heim (Anti-Home) des Menschen. Dann kam der Tag, an dem ich das erste Plastikspielzeug in ein Gemälde malte. Plötzlich, so mein Eindruck, wirkte der Mensch nicht mehr entfremdet und offenbar ging es nicht nur mir so, auch die Betrachter haben eindeutig stärkeren Zugang zu den Bildern gefunden.« Die Verbindung des Menschen zur Natur ist also noch nicht ganz verloren, knallbunte Luftballons, Plastikpistolen und klebrig-süße Gummischlangen können sie noch retten.

Bavaria, Susannah Martin-170cm x 240cm
Bavaria, 2016

Opulente Bildwelten in einer erweiterten Realität

Die Kompositionen sind bei Martin stets von beeindruckender Opulenz, mit einer ins Surreale gehenden Verdichtung, die Mitbringsel der Menschen aus der Zivilisation meist hyperrealistisch herausgearbeitet, im Gesamteindruck fast collageartig. Dabei basiert ein einzelnes Bild oft auf zahlreichen Vorlagen, die entstehen, wenn Martin ihre Modelle in der Natur spielerisch frei agieren lässt und die sich dabei einstellenden Szenen fotografisch festhält. So sind mittlerweile mehrere tausend Fotos entstanden, von denen stets einige eine ganz besondere Geschichte zu erzählen scheinen und prädestiniert sind, den Ausgangspunkt für das nächste malerische Arrangement zu bilden.

Oft greift Martin dabei nur einzelnen Elemente aus einem Bild heraus, kombiniert diese mit dem Setting eines anderes Fotos, fügt weitere Bildelemente hinzu und erarbeitet so ihre Bildwelten, die dichter und voluminöser ausfallen, als es ein reales Motiv je sein könnte. Dennoch erscheinen sie nicht fremd oder gar artifiziell, denn unser Bildverständnis ist bereits vorausgeilt und hat sich nach Jahren der digitalen Retusche längst erweitert. Das Spektrum dessen, was wir als Abbild der Realität zu akzeptieren bereit sind, hat sich deutlich verschoben, und so zeigen auch Martins Arbeiten ganz bewusst einen erweiterten Realismus, mit dem sie dem empfundenen Charakter einer Situation näher kommt, als es eine reine Darstellung des Gesehenen ermöglichte.

»Ich sehe absolut keinen Grund, warum die Malerei an alten Regeln festhalten sollte. Für mich ist stets wichtiger, wie sich die Realität anfühlt, und nicht so sehr, wie sie genau aussieht.«

Verneigung vor den alten Meistern

Wenn Susannah Martin mit den tradierten Regeln des Realismus bricht, tut sie dies in tiefer Verneigung vor den alten Meistern, wie es einer ernsthaften Künstlerin wohl auch kaum anders möglich ist. Wer Regeln brechen will, muss sie schließlich zunächst einmal beherrschen, und das tut Martin mit beeindruckendem handwerklichen Können und damit wohl zwangsläufig in geistiger Komplizenschaft mit den großen Handwerkern der Renaissance. So nimmt sie schließlich auch inhaltlich den Diskurs nahtlos auf – war die Zeit des wissenschaftlichen Aufbruchs doch bestimmt von dem Bemühen, den Kosmos zu verstehen und die Natur zu beherrschen, was der Menschheit mit einem solchen Erfolg gelang, dass er heute Fragen einer an Hybris grenzenden Dominanz und Entfremdung zu erörtern hat.

Kopernikanisches Zwielicht, 120 x 150cm, Susannah Martin
Kopernikanisches Zwielicht, 2013

Der Mensch also im Kopernikanischen Zwielicht, dem bereits die Eule der Minerva über die Schulter schaut, auf der Spur der großen Zusammenhänge des Universums mit einem kopernikanischen Planetensystem, das bei genauem Hinsehen allerdings noch um die Erde kreist. Im Dialog mit einem »düreresken« Hasen, dem Sinnbild für die systematische Kartographie der Natur, scheint verhandelt zu werden, ob die Vertreibung aus dem Paradies als Preis der Erkenntnis gezahlt werden muss. Vielleicht lässt sich ja tricksen, kommen wir mit einer Umdeutung davon, schützt uns das Fabelwesen als Amulett vor allzu großem Ungemach, nicht umsonst findet es heute ebenso breiten Zuspruch wie in voraufklärerischen Zeiten, nur eben nicht mehr beim mittelalterlichen Goldschmied gefertigt, sondern zeitgemäß in industrieller Massenproduktion.

Neue Geschlechterrollen beim Picknick im Grünen

Einen geradezu ikonischen Klassiker der Kunstgeschichte zitiert Martin auch in »Le Déjeuner sur l´herbe est fini« und folgt damit einer langen Tradition, denn das Motiv des Picknicks im Grünen wurde in der Malerei immer wieder aufgegriffen und im Blick der Zeit neu interpretiert; ganz brav etwa bei Monet, der es sehr gesittet zugehen ließ, die Herren in Anzug und Zylinder, die Damen in weit fallenden, bodentiefen Kleidern, während das Déjeuner sur l‘herbe von Manet, auf das sich Monet bezog, wenige Jahre zuvor nur die Herren sittlich in Anzug darstellte, während die Damen halb oder vollständig entkleidet am Picknick teilnahmen – Mitte des 19. Jahrhunderts ein veritabler Skandal und so wurde das Bild 1863 auch vom Pariser Salon zurückgewiesen, damals freilich nicht aufgrund der ungleichen Geschlechterrollen, die heute mutmaßlich zum »canceln« des Künstlers führen würden, sondern schlicht wegen der unverblümt dargestellten, weder religiös noch mythologisch aufgeladenen Nacktheit. Bis heute ist dies eines der kunsthistorisch am meisten diskutierten Werke und es überrascht kaum, dass auch umfangreiche feministische Erörterungen im Konvolut der kunstwissenschaftlichen Einordnungen nicht fehlen. Martin antwortet nun mit einem Gegenentwurf und versetzt das Sujet ins 21. Jahrhundert der hedonistischen westlichen Welt. Bei ihr sind Mann und Frau gleichermaßen unbekleidet und das Picknick, das schon gemäß Titel bereits vorbei ist, scheint deutlich weniger gesittet verlaufen zu sein als bei den Impressionisten. Alles deutet auf ein rauschhaftes Gelage hin, die Frau dabei als zentrale Figur, bestenfalls der Natur unterworfen, die ihrerseits im Begriff ist, die Artefakte des Konsumzeitalters für sich zu erobern, zumindest solange sich die Menschen ihrer Übersättigung geschlagen geben. Eine moderne, feministische Version des Picknicks im Grünen.

Le Déjeuner Sur L´herbe est Fini, Susannah Martin
Le Déjeuner sur l‘herbe est fini, 2015

»Ich hatte ein gigantisches Bedürfnis, Menschen zu malen«

Die Malerei schien Susannah Martin bereits in die Wiege gelegt. 1964 in New York geboren, wuchs sie in einer Künstlerfamilie auf, Vater und Mutter waren beide Maler des figurativen Realismus. Dennoch strebte sie selbst zunächst einen anderen Weg an, wollte das Leben der freien Künstlerin vermeiden und zog in ihrer Jugend zunächst ein Medizinstudium in Betracht. Tatsächlich konnte aber auch sie ihrer Bestimmung nicht entgehen und es wurde doch eine klassische Kunstausbildung, die sie 1982 an der New York University begann, wo sie mit dem Fotorealisten John Kacere als einem ihrer Lehrer dem nächsten figurativen Maler begegnete, der sie nachhaltig prägen sollte. Nach Abschluss des Studiums arbeitete sie zunächst als Kulissenmalerin und fertigte Hintergründe für Film- und  Fotoaufnahmen an – in der Zeit vor Photoshop und digitaler Bildmontage ein gefragter Beruf, der Martin neben umfangreicher Praxis die Liebe zur großformatigen Malerei einbrachte. Später widmete sie sich der Wandmalerei für private und öffentliche Räume, zunächst in New York, dann in Frankfurt am Main und Berlin, wo sie heute lebt. Während der gesamten Zeit ging sie auch der freien Malerei nach, behielt die Bilder aber unter Verschluss, zeigte sie niemandem und suchte keine Ausstellungsmöglichkeit.

Erst nach der Geburt ihrer Tochter im Jahr 2000 fasste sie den Entschluss, sich vollständig der freien Malerei zu widmen. Dabei stand für sie nicht nur von Beginn an außer Frage, dass ihr Stil die realistische Figuration ist, sie hatte zudem eine große Sehnsucht danach, Menschen zu malen – seit jeher ihr Lieblingsmotiv, das in ihrem früheren Beruf jedoch nie gefragt war, schließlich war sie als Kulissenmalerin nur für den Hintergrund zuständig, die Menschen kamen dann leibhaftig als Schauspieler ins Bild. So fand sie am Beginn des 21. Jahrhunderts zu dem – wie sie heute sagt, sehr naiven – Vorhaben, den Akt in der Natur in einer zeitgemäßen, weniger romantischen, dafür umso realistischeren Darstellung zu malen. Wie so häufig scheint auch hier ein gewisses Maß an Naivität geholfen zu haben, ein scheinbar vermessenes Unterfangen zu starten und schließlich Neues, Ungesehenes zu schaffen.Art.Salon

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Robert Frank war ein einflussreicher Fotograf des 20. Jahrhunderts. Das Museum of Fine Arts Boston stellt in Robert Frank: Mary’s Book ein ganz persönliches Fotobuch aus den jungen Jahren des Künstlers vor. Die Schau eröffnet am 21. Dezember.

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