Unai Etxebarria

Allegorische Bildwelten voll Rätsel und kluger Zeitkritik

Unai Etxebarria entwirft malerische Bildwelten, die voller Witz und Scharfsinn unser Zeitgeschehen kommentieren. Die mit Öl auf Leinwand entwickelten Szenerien scheinen unmittelbar greifbar und bleiben doch geheimnisvoll, treten mit dem Betrachter in einen Dialog, fordern ihn auf, das Bild zu dechiffrieren, Vermutungen anzustellen, eine Deutung selbst zu erarbeiten. Seine Bilder sind ästhetischer Genuss und intellektuelles Abenteuer. Wer sich darauf einlässt, wird reich belohnt.

von Felix Brosius, 14. February 2022
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The Game, 2021

Den Kopf in die Hand gestützt, eher resigniert als nachdenklich wirkend, sitzt ein zumindest ehemals gut gekleideter Mann vor einem Schachbrett, anscheinend über die weitere Spielstrategie sinnierend. Der Raum, offenbar in einem einst prachtvollen Gebäude gelegen, mittlerweile jedoch marode, dem Verfall überlassen, die Decke in Teilen eingestürzt, lediglich eine Topfpflanze und der Schachspieler scheinen die letzten lebenden Spuren der Zivilisation zu sein. Auf dem Schachbrett ist erst ein Zug getan, die gegnerischen Figuren stehen alle noch in Startaufstellung, ohnehin ist keine zweite Person als Gegenspieler zu erkennen, offenbar spielt hier jemand ein verzweifeltes Spiel gegen sich seinen alter ego, während die Welt um ihn herum im Verfall begriffen ist.

»Es ist der Betrachter, der gezwungen ist, Vermutungen über die mögliche Bedeutung des Werks anzustellen.«

Das 2021 entstandene Bild The Game ist leicht zu lesen und doch schwer zu ergründen. Auch der Titel hilft nur bedingt. Welches Spiel wird hier gespielt? Der Niedergang und die scheinbare Ausweglosigkeit, begründet in einer Bewegungsstarre, die angesichts der Umstände geradezu absurd anmutet, sind fast körperlich zu spüren. Wie es weitergeht, mag man sich gar nicht ausmalen, doch die Vorgeschichte wäre schon interessant: Wie ist der Mann in diese Situation hineingeraten, welche unsichtbaren Fesseln hindern ihn daran, sich daraus zu befreien? Fragen, die man sich auch in Bezug auf so manche drängenden Menschheitsfragen stellen mag, und so ist es leicht nachvollziehbar, wenn Unai Etxebarria erläutert, dass The Game als Allegorie auf den Umgang der Menschen mit dem Klimawandel entstanden ist, denn auch hier, so Etxebarria, »steht viel auf dem Spiel und es bleibt auch nicht mehr viel Zeit zum Handeln.«

Artist Unai Etxebarria
Unai Etxebarria im Atelier

Revolution der Bourgeoisie

Etxebarria ist ein scharfer Beobachter unserer Zeit, der das menschliche Verhalten in seinen Bildern kritisch kommentiert, aber nie kühl distanziert, sondern voll Wärme und Zuneigung, humorvoll und ironisch - und stets, ohne sich selbst dabei auszunehmen. So kommen seine Bilder nicht wie die Urteile eines strengen Richters daher, sondern vielmehr als mal schmunzelnde, mal ratlose Kommentare eines Beteiligten, dem immer wieder der Blick von außen gelingt auf den Schlamassel und das Durcheinander, die wir alle gemeinsam anrichten. Dieser Blick findet in seinen Bildern Ausdruck, in denen sich die Themen unserer Zeit spiegeln, kunstvoll inszeniert, übersetzt in ein allegorisches Bühnenbild, das vollkommen stimmig daherkommt und doch der Enträtselung bedarf, verschiedene Lesarten zulässt, dem Betrachter nicht die Deutung vorschreibt, ihm vielmehr die eigene Interpretation abverlangt.

»Ich kann den Ereignissen um mich herum nicht entfliehen. Kunst muss ein Spiegel ihrer Zeit sein. Sonst wird es dekorative Kunst, die mich nicht interessiert.«

Die Themen für seine Motive begegnen ihm im alltäglichen Austausch mit der Welt - in Form einer Schlagzeile, eines Fotos, einer Nachricht oder eines Gesprächs, »am besten begleitet von einem guten Wein«, wie Etxebarria dazu anmerkt. Etwa wie das Gespräch mit einem engen Freund – ob mit oder ohne Wein, mag jeder selbst spekulieren –, in dem sie gemeinsam zum großen Rundumschlag ausgeholt und sich sämtliche Fehlentwicklungen dieser Welt vorgenommen haben. Schnell kamen sie von einem Thema zum nächsten, wussten pointiert zu kritisieren und entwickelten ein umfassendes Bild all dessen, was so nicht weiter hinnehmbar sei. Es war die ganz große Revolution, durchweg im Konjunktiv, sehr gemütlich auf der heimischen Couch. Doch Etxebarria wäre nicht der scharfsinnige Beobachter, der er ist, würde nicht auch hier bei ihm ein zweiter Film aus Beobachterperspektive mitlaufen, und so ist er sich nicht nur seiner Rolle als »Couch-Revolutionär« sehr bewusst, sondern auch der Tatsache, dass diese Rolle nicht exklusiv durch ihn besetzt ist, vielmehr in zahlreichen Wohnzimmern zu häufiger Aufführung kommt und für ihn ein wunderbares Bildmotiv hergibt: Der maskierte Straßenkämpfer im Begriff, einen Molotow-Cocktail zu werfen, aus der Wärme des heimischen Wohnzimmers heraus, die Partyballons schweben noch in der Luft – so gebrochen wie die Komposition ist das Spektrum der Lesarten, eine beißende Kritik voll schmunzelnder Selbstironie.

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Couch Revolution, 2021

Über die Philosophie zur Malerei

Der 1968 geborene Etxebarria hat früh mit der Malerei begonnen und ist doch erst über Umwege zu ihr gekommen. Schon als Kind interessierte er sich für Kunstgeschichte, hat selbst gezeichnet, andere Werkstoffe bearbeitet, seiner Kreativität mit den Händen Ausdruck verliehen. Mit 17 konnte er in der Nähe seiner Heimatstadt Bilbao bei einem professionellen Maler im Atelier arbeiten und lernte dort die Malerei mit Öl kennen. Nach dem Abitur zog er das Kunststudium in Betracht, entschied sich dann aber für Philosophie. Das Zeichnen behielt er bei, ohne professionellen Anspruch, wie er sagt, malte später auch Aquarelle und organisierte dann doch eine erste Ausstellung seiner Arbeiten, die ihm glücklicherweise den Impuls gab, die Ölmalerei wieder aufzunehmen, bei der er bis heute geblieben ist.

»Meine Arbeiten sollen zum Nachdenken anregen, Fragen stellen, mit dem Betrachter oder der Betrachterin in einen Dialog treten. Ich versuche nicht, Antworten zu geben.«

Von dem kurzen Atelieraufenthalt abgesehen ist der heute im beschaulichen Rees in Nordrhein-Westfalen lebende Etxebarria ein Autodidakt, der seine Bildmotive sorgfältig entwickelt. Ausgehend von einer oftmals vagen Idee recherchiert er assoziativ Bilder, Vorlagen, Fragmente, die sich in einer ersten Skizze zu einer Komposition zusammenfügen. Bei der Ausarbeitung der Skizze zum Bild offenbart sich mitunter, wie Inhalt und Form miteinander ringen, die Komposition erfährt Korrekturen, wird neu austariert, Überflüssiges wird eliminiert. Das Ergebnis sind konzentrierte Sujets, in sich abgeschlossen, von verführerischer Ästhetik, die den Betrachter, hat er sich einmal auf das Bild eingelassen, sogleich herausfordern, denn die Szenen lassen sich zwar ohne Weiteres beschreiben, sie zu deuten ist hingegen Arbeit, erfordert Kreativität und Phantasie.

Referenzen und Spuren als Anstoß zum Dialog

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Akt, eine Rolltreppe herabsteigend, 2014

In den Dialog tritt Etxebarria nicht nur mit den Betrachtern seiner Bilder, sondern auch mit früheren Werken aus der Kunstgeschichte. Seine Arbeiten greifen immer wieder Zitate auf, in tiefer Verneigung vor den großen Meisterwerken, aber auch mit einem frechen Augenzwinkern. So versetzt er Duchamps Akt, eine Treppe herabsteigend, in die Gegenwart und lässt eine Schaufensterpuppe eine Rolltreppe hinuntergehen. Den toten Torero von Manet leiht er sich aus für ein Quartett, das auf ein Trio reduziert ist – ein Kommentar zu den Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Kultur, die wie der vierte Musiker in einen Tiefschlaf gefallen ist und darauf wartet, dass das Leben wieder erwacht. Die verbliebenen Streicher spielen blind, den Kopf unter einem Tuch verborgen, Metapher für die kulturelle Blindheit, die sich unter dem Eindruck der »Lockdown-Maßnahmen« ausgebreitet hat.

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Quartett, 2021

Etxebarria entwirft realistische Darstellungen irritierender Bildmotive, legt Spuren und verführt uns, ihnen zu folgen. Lassen wir uns darauf ein, begeben wir uns auf eine gefährliche Reise, denn es droht nicht nur Erkenntnis, sondern auch die Konfrontation mit unserem inneren »Couch Revolutionär«. Die Bilder sind Metaphern voller Anspielungen und Referenzen, ein allegorischer Realismus als kluge Zeitkritik. Wichtige Referenzen sind für ihn Künstler wie Michaël Borremans, Justin Mortimer oder auch Tim Eitel – ein Kanon, den seine Arbeiten durchaus passend ergänzen, in ganz eigener Handschrift voll Ernsthaftigkeit und Humor.Art.Salon

Dive deeper into the art world

Mustafa Özel

Wer sich von Mustafa Özel portraitieren lässt, braucht Mut. Den Mut, sich selbst zu erkennen, wahrhaftig, unverstellt, wie mit einem Röntgenblick in die eigene Seele, ehrlicher, als ein Spiegel je sein könnte. So sind Özels Ölmalereien für die Modelle möglicherweise ein Risiko, für die Kunstwelt sind sie in jedem Fall ein Geschenk, Portraits von selten gesehener Tiefe und Intensität, die Wiener Moderne im Istanbul des 21. Jahrhunderts.

von Felix Brosius, 15. December 2021
London, Tate Britain

Es war eines der bewegendsten Jahrzehnte in der Geschichte des Vereinigten Königreichs: die 1980er, geprägt von Streiks, Protesten, AIDS. Fotografinnen und Fotografen dokumentierten diese Zeit und wurden durch ihre Bilder zum Teil selbst zu politischen Aktivisten. Die Ausstellung The 80s: Photographing Britain eröffnet am 21. November in der Tate Britain in London.

21. November 2024