Mustafa Özel

Portraits der unsichtbaren Realität

Wer sich von Mustafa Özel portraitieren lässt, braucht Mut. Den Mut, sich selbst zu erkennen, wahrhaftig, unverstellt, wie mit einem Röntgenblick in die eigene Seele, ehrlicher, als ein Spiegel je sein könnte. So sind Özels Ölmalereien für die Modelle möglicherweise ein Risiko, für die Kunstwelt sind sie in jedem Fall ein Geschenk, Portraits von selten gesehener Tiefe und Intensität, die Wiener Moderne im Istanbul des 21. Jahrhunderts.

von Felix Brosius, 15. December 2021
Mustafa Özel in the Studio
Mustafa Özel im Atelier

Mustafa Özel malt Portraits, die unter die Haut gehen – im wahrsten Sinne des Wortes, denn seine Ölmalereien beschränken sich nicht auf die Abbildung der äußeren Erscheinung einer Person, sondern legen die Spuren ihres Lebens offen, zeigen den inneren Seelenzustand. Seine Arbeiten entfalten in ihrer expressiven Intensität eine enorme Kraft und erlauben es dem Betrachter, einen Menschen wahrhaft zu sehen, ihn im Wesen zu erkennen. Mitunter wird man sich im Stil der Darstellung unweigerlich an Egon Schiele erinnert fühlen, auch wenn dies keine bewusste Referenz von Özel ist. Die nach Modell entstandenen Portraits zeigen Menschen ungeschützt in all ihrer Ambivalenz mit äußerer Stärke und innerer Verletzlichkeit, spiegeln Enttäuschung und Zuversicht, Hoffnung und Schmerz.

Mustafa Özel, Francisco, 2003
Francisco, 2003

Sichtbarmachung der Realität

Özel sieht sich selbst als figurativen Maler, der die Realität abzubilden versucht – die offensichtliche und die wahrgenommene. Er versucht, die Haltung zu ergründen, mit der ein Mensch dem Leben begegnet, Emotionen zu erfassen, den Menschen in seinem Sosein darzustellen. Er raubt seinen Modellen jede äußere Schutzhülle, legt ihr Inneres radikal offen. Häufig malt er die Figuren unbekleidet, der Akt als Ausdruck einer besonderen Verletzlichkeit. Lange sucht er die richtige Körperhaltung, eine bestimmte Perspektive, eine Spannung, die genau jenen inneren Zustand spiegeln, den er zu transportieren sucht.

Mustafa Özel, Beyza & Beyza, 2021
B&B (Beyza & Beyza), 2021

Die in weiten Teilen realistischen Darstellungen besitzen dennoch eine enorme expressive Wirkung. Vor neutralem Hintergrund präsentiert, ziehen die Figuren die gesamte Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich, werden teils durch überbetonte, stilisierte Schattenlinien gleich einer »Outline« auf eine Bühne gehoben, die sie ganz sicher nicht gesucht haben, wirken eher wie zufällig in das Scheinwerferlicht geraten, sind sie doch von ihrer ganzen Haltung und Körpersprache vollkommen bei sich, nach innen gerichtet, alles andere als ein Darsteller, der um Aufmerksamkeit buhlt.

Mustafa Özel, Portrait of Beyza, 2017
Portrait of Beyza, 2017

Expressive Spuren von roher Farbe

Die expressive Wirkung als Spiegel des inneren Seelenzustands der Figuren wird mit erstaunlich sparsamen Mitteln erzielt. Nur in geringem Maße erlaubt sich Özel Stilisierungen und Farbverstärkungen, die jedoch von entscheidender Bedeutung für die Wirkung der Portraits sind. »Der Einsatz der Farbe hat in meinen Portraits zwei Funktionen. Zum einen dient die Farbe dazu, das organische oder objektive Bild zu erzeugen. Zum anderen hat sie aber auch eine expressive Wirkung durch einzelne Spuren roher Grundfarben.« Diese expressiven Spuren legt Özel vor allem in den Gesichtern der Figuren, ohne dass sie vom Betrachter als fremd wahrgenommen werden, vielmehr scheinen sie mit den natürlichen Anlagen der Modelle zu verschmelzen, transportieren so die Prägungen des Lebens an die Oberfläche, machen sie für den Betrachter sichtbar.

»Der Einsatz der Farbe hat in meinen Portraits zwei Funktionen. Zum einen dient die Farbe dazu, das organische oder objektive Bild zu erzeugen. Zum anderen hat sie aber auch eine expressive Wirkung durch einzelne Spuren roher Grundfarben.«

Portraitmalerei in einer rückwärtsgewandten Autokratie

Sein erstes Portrait malte Özel mit 16 Jahren, als Modell musste ein guter Freund herhalten – seitdem ist die Portraitmalerei seine raison d’être. Von 1980 bis 1984 studierte er an der Marmara University in Istanbul am Department for Visual Arts. Das Jahr seines Studienbeginns war zugleich das Jahr des dritten Militärputsches in der Geschichte der Türkei. Ein Ereignis mit weitreichenden Folgen bis in Schulen und Universitäten hinein, denn »zur Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung« wurde das soziale Leben stark reguliert und Freiheiten wurden beschränkt. So war es in der Zeit undenkbar, an der Universität nach Modell zu malen – für einen Portrait-Maler eine nicht geringe Einschränkung, aus der Özel offenbar mehr Ansporn als Entmutigung gewinnen konnte.

»If I weren't an artist, my purpose in life would probably be mundane.«

Auch heute noch können einfache Portraits in einem autokratischen Land zu politischer Kunst werden, umso mehr, wenn es sich um expressive Akte handelt in einem Land, in dem der Staat die Deutungshoheit über Geschichte und gesellschaftliche Normen für sich beansprucht und Fragen von Herkunft, Identität und historischen Bezügen nicht offen verhandelt werden. So entsprechen auch Özels Arbeiten in der Türkei nicht dem klassischen Kanon der etablierten zeitgenössischen Kunst, werden mitunter als »unpassend« und unerwünscht empfunden. Auf der Istanbul Art Fair 2017 etwa wurden seine Bilder von der Polizei entfernt, als Grund genügte das Urteil, sie würden eine unangemessene Nacktheit darstellen. Auch wenn man einen solchen Vorfall aus aufgeklärter Perspektive belächeln könnte, erwachsen daraus erhebliche Einschränkungen für die künstlerische Entwicklung. Aus Angst davor, mit dem System in Konflikt zu geraten, meiden etablierte Galerien und Kunstschauen Arbeiten wie die von Mustafa Özel, und so wird Kunst, die den normierten Blick auf Land und Gesellschaft herausfordert, erfolgreich aus der öffentlichen Wahrnehmung im Raum verdrängt. Kafkaeske Zustände für Künstler, die ihre vornehmste Aufgabe wahrnehmen und Ungesehenes sichtbar machen, sich aber gerade dadurch für die Gesellschaft in Fremdkörper verwandeln, ausgegrenzt und Möglichkeiten der Sichtbarkeit beraubt werden.

Mustafa Özel, Body in Space-Series, 2018
Referenz an Kafkas »Verwandlung« in Özels Atelier, aus der Serie »Körper im Raum«, 2018

Was bleibt, sind eine Gegenöffentlichkeit in den sozialen Medien wie Instagram, wo Özel über eine beachtliche Anhängerschaft verfügt, Ausstellungen außerhalb des etablierten Kunstbetriebs, von denen Özel bereits über 20 realisiert hat, und die Rezeption im Ausland. So ist er heute auch sowohl innerhalb als auch außerhalb der Türkei in namhaften Sammlungen vertreten und hat an zahlreichen internationalen Ausstellungen teilgenommen. Dabei fremdelt er mit dem zeitgenössischen Kunstbetrieb, der nicht nach Kunst strebe, sondern Kunst benutze, und betrachtet sich in diesem Sinne nicht als Künstler, sondern als Maler. Seine Bewunderung gilt Malern wie Brueghel, Goya, Munch und Hopper für ihr Vermögen, den Betrachter in ihre Welt hineinzuziehen, und Meistern wie Uccello, Caravaggio, Cezanne, Diebenkorn oder Uglow für ihre Fähigkeit, den Betrachter Kunst zu lehren. Die aufregendste Künstlerin für ihn aber ist Joan Mitchell, die prominente Vertreterin des abstrakten Expressionismus. Eine schlüssige Auswahl für einen Künstler, dessen Portraits den Betrachter mit expressiver Kraft in ihre emotionale Welt hineinziehen, ihn Kunst nicht nur betrachten, sondern nahezu körperlich erfahren lassen.Art.Salon

Dive deeper into the art world

Matthew Eguavoen

Matthew Eguavoen portraitiert Menschen mit starker Persönlichkeit und festem Blick. Dargestellt vor reduziertem Hintergrund bleibt der soziale Kontext bewusst im Verborgenen und wird gerade dadurch thematisiert. Eguavoen fordert den Betrachter auf, über die Lebensumstände, Erfahrungen und Prägungen der dargestellten Personen zu spekulieren, und führt ihn so in unsicheres Terrain. Ein junger Künstler aus Nigeria mit ganz eigener Handschrift, der in seinen Bildern die zentralen Fragen nach Herkunft und Identität verhandelt.

von Felix Brosius, 09. September 2021
Berlin: Retrospektive von Nan Goldin in der Neuen Nationalgalerie

Mit einer umfassenden Ausstellung würdigt die Neue Nationalgalerie Nan Goldins Werk aus den letzten 45 Jahren. Die Fotografin eroberte mit ihrer Schnappschuss-Ästhetik die Kunstwelt und gilt als eine der einflussreichsten Künstlerinnen unserer Zeit. Nan Goldin: This Will Not End Well ist ab dem 23. November in Berlin zu sehen.

22. November 2024