Matthew Eguavoen

Identität im sozialen Kontext

Matthew Eguavoen portraitiert Menschen mit starker Persönlichkeit und festem Blick. Dargestellt vor reduziertem Hintergrund bleibt der soziale Kontext bewusst im Verborgenen und wird gerade dadurch thematisiert. Eguavoen fordert den Betrachter auf, über die Lebensumstände, Erfahrungen und Prägungen der dargestellten Personen zu spekulieren, und führt ihn so in unsicheres Terrain. Ein junger Künstler aus Nigeria mit ganz eigener Handschrift, der in seinen Bildern die zentralen Fragen nach Herkunft und Identität verhandelt.

von Felix Brosius, 09. September 2021
Matthew Egouavoen
Matthew Eguavoen, geboren 1988 in Lagos

Stellen Sie sich vor, Sie verabschieden morgens Ihr Kind in die Schule und wissen nicht, ob Sie es abends wiedersehen werden, denn Sie müssen stets damit rechnen, dass die Schule überfallen und Ihr Kind entführt wird. Auch Sie selbst laufen jederzeit Gefahr, Opfer krimineller Banden zu werden, die Polizei bietet keinen Schutz, sondern ist eine zusätzliche Bedrohung in einem von Armut und Hunger bestimmten Alltag.

»Living in Nigeria is terrible. Its citizens are living, not sure if they are the next kidnapped victims or next victim of police brutality.«

Dieser Albtraum ist die Lebensrealität vieler Menschen in Nigeria und prägt die Arbeiten des in Lagos lebenden Künstlers Matthew Eguavoen. Dabei ist die Brutalität des Alltags mehr Kontext als Motiv, denn Eguavoen richtet den Fokus in seinen eindrucksvollen Portraits auf die Stärke der Menschen, die ihr Leben trotz der mehr als widrigen Umstände jeden Tag neu meistern, ein täglicher Kampf, den er voll Entsetzen und Bewunderung beschreibt: »Living in Nigeria is terrible. Its citizens are living, not sure if they are the next kidnapped victims or next victim of police brutality, the economy is poor. But this doesn’t stop them from going about their daily life, hustling for their daily bread, trying endlessly to survive.«

Starke Persönlichkeiten mit festem Blick

So portraitiert er Menschen aus seinem Umfeld, die nicht von Verzweiflung gezeichnet, sondern selbstbewusst und stark erscheinen. Sie alle sind wesentlich von ihren Lebensumständen geprägt – wie jeder Menschen unterliegen sie den Einflüssen ihrer Umwelt, ihre Erfahrungen prägen ihre Haltung, ihren Charakter und ihren Blick auf die Welt. Und dieser Blick – ganz im physischen Sinne – ist für Eguavoen von zentraler Bedeutung. Alle Menschen in seinen Portraits haben einen starken Blick mit festem Augenkontakt – eine Eigenschaft, die er bei anderen bewundert und bei sich selbst vermisst.

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Odion (Senior), 2021, 130 x 100 cm

Herkunft und Identität

Die Geschichte der Menschen, die ihnen diese Haltung verleiht, wird bewusst nicht dargestellt. Die Personen stehen vor neutralem Hintergrund, herausgelöst aus ihrem sozialem Kontext. Obwohl gerade dieser Kontext für den Künstler von zentraler Bedeutung ist, blendet er ihn in seinen Bildern bewusst aus. Das ist Botschaft und Aufforderung zugleich: Herkunft prägt Identität, aber nicht deterministisch, der Mensch bleibt Subjekt, ist nicht unentrinnbar in seiner Geschichte gefangen.

Doch der soziale Kontext prägt nicht nur den Menschen selbst, sondern auch die Art, wie andere ihm begegnen. Ohne sozialen Kontext fehlen entscheidende Signale, um eine Person nach gewohntem Schema zu lesen. Für Eguavoen kein Mangel, sondern eine Bereicherung. Er fordert den Betrachter auf, über die Geschichte der Portraitierten zu spekulieren. Was hat die Person in ihrem Leben beeinflusst, wodurch sind ihre Haltung und Persönlichkeit geprägt, worauf gründet der starke, offene Blick?

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Womanhood, 2021, 130 x 100 cm

Eine eigene Handschrift im Kanon mit Boafo und Palito

Fragt man Eguavoen nach Künstlern, die er selbst bewundert, überrascht es nicht, dass er ohne Zögern Amoako Boafo und Zéh Palito nennt, denn zu beiden legen seine Arbeiten in der Motivwahl assoziative Spuren, wenngleich Eguavoen in der Ausarbeitung seine ganz eigene Handschrift gefunden hat. Er kombiniert in seinen Bildern Acryl und Ölfarbe, arbeitet seine Figuren aus. Der reduzierte Hintergrund und eine leicht stilisierende Pinselführung bei der Kleidung lenken das Auge des Betrachters umso stärker auf das Gesicht und den für den Künstler so zentralen Blick, ein Stil, den Eguavoen auch unter dem Einfluss von Eniwaye Oluwaseyi und Collins Obijiaku entwickelt hat.

Matthew Eguavoen wurde 1988 in Lagos geboren. Die Malerei hat ihn früh begeistert. Dennoch studierte er zunächst Bauwesen an der University of Port Harcourt, bevor er nach dem Bachelor-Abschluss entschied, sich vollständig der Malerei im Selbststudium zu widmen. In jüngster Zeit erlangt er zunehmend internationale Aufmerksamkeit, hat bereits an ersten Ausstellungen in London teilgenommen. Ein junger Künstler mit bedeutsamem Beitrag zur Debatte um Herkunft und Identität, der sicher zunehmend Beachtung finden wird.Art.Salon

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Enclosed II, 2021, 60 x 70 cm

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