Porträt: Selma Selman

Sie boxt, schreit und zerstört

Sie scheut nicht davor zurück, auf sich aufmerksam zu machen: Die gefährlichste Frau der Welt zerlegt Autos, schreit »You have no idea« aus vollem Halse, schlägt sich sogar mit Boxhandschuhen. Die Performances von Selma Selman bleiben haften, genauso wie ihr Engagement.

19. December 2022

Bis aufs Letzte

Die Sonne steht tief, kurz vorher muss es geregnet haben. Tropfen haben sich auf der Windschutzscheibe gebildet, man kann sie von innen sehen. Drei Männer in schwarzen Anzügen machen sich an dem Auto zu schaffen, mit Schraubenziehern und ihren bloßen Händen. Sie tragen Sonnenbrillen, womit sie den alien-jagenden Agenten aus Men in Black ähneln. Gleich darauf schwenkt die Kamera nach rechts, eine Frau gerät ins Blickfeld. Auch sie kommt ganz in Schwarz daher, mit Lederjacke und Lara-Croft-Sonnenbrille, die dunklen Haare zum Dutt gebunden. Ihre behandschuhten Hände greifen nach der Motorhaube, die sich nach der Schrauberei mit einem kurzen Ruck löst, das schwarzlackierte Metall glänzt im Abendlicht. Die Frau geht um das Auto herum, während ihr die Kamera ihr bei jedem Schritt folgt. 

Um das Autowrack herum, auf Steintreppen, sitzt ein neugieriges Publikum. Es beobachtet, wie die junge Frau den unteren Teil der hinteren Autositzreihe auf dem Boden neben anderen Einzelteilen aufreiht. Filmschnitte reduzieren die Szene auf zehn Minuten. Zehn Minuten, in denen die vier Unbekannten das Gefährt immer weiter sezieren, bis sie schließlich mit Äxten und Stöcken auf das Wrack einschlagen, es auf die Seite und wieder zurück kippen. Das Ex-Auto, ein Mercedes, besteht buchstäblich nur noch aus seinen Einzelteilen. Zuletzt posieren die vier vor dem zu Metallschrott gewordenen Fahrzeug wie die Men in Black auf einem Filmplakat, ganz vorn: Selma Selman, wie der Abspann verrät. Die Männer: ihre Brüder und ihr Vater, die ihr bei der Umsetzung der Performance Mercedes Matrix (2020) geholfen haben. 

Die gefährlichste Frau der Welt

Selma Selman ist die »gefährlichste Frau der Welt«, sagt sie selbst. Vor allem ist sie aber Perfomance- und Videokünstlerin, eine Aktivistin, die auch Skulpturen und Zeichnungen fertigt. Erst in diesem Jahr widmete ihr der Kunstraum Innsbruck eine Solo-Ausstellung mit dem Titel »Selma Selman – The Most Dangerous Woman in the World«.

Zufällig ist ihre Wahl nicht auf das Objekt Auto gefallen: Die Documenta-fifteen-Teilnehmerin wurde 1991 in Ružica, Bosnien-Herzegowina, geboren. Sie stammt aus einer Roma-Familie, die ihr Geld damit verdient, Altmetalle zu recyceln. Nicht ungewöhnlich für die von Armut bedrohte Community. Mit ihren Werken transformiert sie die Lebensrealität ihrer Eltern in Kunst um: 

 »Aufgrund der anhaltenden Wirtschaftskrise in Bosnien-Herzegowina ist es unglaublich schwierig, ein angemessenes Einkommen zu erzielen, vor allem für Roma, die aufgrund mangelnder Bildung und Diskriminierung ohne staatliche Hilfe leben«, beschreibt Selman. Die Arbeit ihrer Familie in ihre künstlerische zu integrieren, sei dann nützlich, wenn das Wertesystem zusammenbricht, wie in der bosnischen Wirtschaft. 

2014 erhielt Selma Selman ihren Bachelor am Institut für Malerei an der Universität Banja Luka, Bosnien und Herzegowina. Anschließend studierte Selman Soziologie und Anthropologie an der Central European University in Budapest. 2018 ging sie für ihren Master der Transmedia Visual and Performing Arts an die Syracuse University nach New York. 

Die Performerin

Ihre Performances wie Mercedes Matrix bleiben haften. Auch bei You have no Idea scheute sie sich nicht, aufzufallen: Sie brüllt »You have no Idea«, immer und immer wieder, 35 Minuten lang. So auch am Election Day 2020, bei einer Black-Lives-Matter-Demonstration in Washington, D.C., die sich bis zum Weißen Haus bewegte. Sie adressiert diejenigen, die nicht nachempfinden können, wie es ist, mit der Diskriminierung, der Belästigung, den Konflikten und Lasten groß zu werden, die sie in ihrer Community erfahren hat – einer Gruppe, die seit Jahrhunderten traumatisiert und misshandelt wird. Ihr ist es wichtig, die unüberwindbaren Unterschiede darzustellen, zwischen denen, die »Bescheid wissen« und denen, die es nicht tun. 

In Superposition tritt sie als Boxerin auf, agiert simultan als Trainerin, Kämpferin und Gegnerin. Sie schlägt sich selbst mit den Boxhandschuhen, »entlarvt und neutralisiert vermeintliche Widersprüche der Identität«, indem sie vor Augen führt, dass sie als Roma, Frau und Migrantin ihre eigene Gegnerin, Trainerin und Heldin ist. 

»Mir geht es nicht darum, etwas darzustellen, mir geht es darum, wie ich mit meiner Kunst etwas ändern kann«, ordnet sie ihre eigene Arbeit ein. Aus diesem Grund hat sie auch das Projekt Get the Heck to School ins Leben in gerufen. Sie sammelt Geld für junge Romni, die dann mit einem Stipendium die Grundschule besuchen können. Vielen weiteren Kindern ermöglicht sie so außerdem ein Mittagessen. Es ist das einzige Projekt dieser Art in Europa. Selman sieht darin großes Potenzial, ein jahrzehntealtes Problem zu lösen: die Zukunft von Roma-Mädchen durch Bildung und Selbstbestimmung abzusichern. 

Die Performance-Künstlerin will Stereotype und Diskriminierung mit ihrer Kunst zerstören, niederstrecken. »Meine Ontologie ist ein übergeordneter Intersektionalismus, virtueller Materialismus und Auto-Feminismus.« Schon 2017 beweist sie beim Berliner Herbstsalon mit I pissed on your land, wie sie jahrhundertelang gewachsenen Schmerz ahndet: Die Fotoreihe zeigt, wie Selman auf den Platz vor das ehemalige Gauforum in Weimar uriniert – auf den damaligen Adolf-Hitler-Platz.

Das Edelmetall

Nicht nur die Performances tragen Selmans Erfahrungen nach außen. Mit ihren Malereien auf Metall bezieht sie ihre biografische Geschichte mit ein: »Ich habe schon immer eine sehr persönliche Beziehung zu Metall gehabt, da meine Familie und ich es seit meiner Kindheit gesammelt und recycelt haben, um uns über Wasser zu halten. Meine neuesten Gemälde auf Metallschrott zeigen Eindrücke aus dem Alltag, Bezüge zur Kunstgeschichte und Textcollagen.«

Ihre Faszination für Metall geht noch tiefer: »Bei weiteren Recherchen zu diesem Thema erfuhr ich, dass alle Metalle, die sich heute auf der Erdoberfläche befinden, aus apokalyptischen Meteoritenschauern vor 200 Millionen Jahren hervorgegangen sind. Jedes menschliche Werkzeug, das heute aus Metallen besteht, entstand aus Kollisionen und chemischen Reaktionen, die unsere gesamte Spezies ausgelöscht hätten.« – ausgerechnet das Material, das ihre Familie heute am Leben hält. Sie bemalt Waschmaschinenteile, Motorhauben, Autodächer oder -türen mit den Motiven. Zu sehen waren ihre Paintings on Metal etwa auf der documenta fifteen. 

Seit zwei Jahren interessieren sich mehr und mehr Ausstellungshäuser für Selman – und widmen ihr Soloausstellungen. Ihre erste Einzelausstellung in Deutschland fand im Herbst 2021 im Kasseler Kunstverein statt: In Don’t look into my eyes präsentierte die Künstlerin sowohl Performances als auch Metallgemälde, Zeichnungen, Fotografien und Videos. 2021 veranstaltete auch die Nationalgalerie von Bosnien und Herzegowina eine Soloschau mit dem Titel Selma Selman. Im Mai 2022 schloss sich der Kunstraum Innsbruck mit einer Ausstellung im Namen ihres Alter Ego The Most Dangerous Woman in the World an – und fokussierte ihre Arbeiten aus Altmetall.

Still dürfte es so schnell nicht werden um Selman, die vermehrt Gehör findet. Die Grundlage für Selmans Performances und Gemälde: Zuhören und Hinsehen.  Art.Salon

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