Geschichte der kinetischen Kunst: Bewegung und Wahrnehmung im Fokus

Kunst im Zeitalter der Maschinen und Computer

Ob mit Wind, Gravitation, Motoren oder computergesteuert: In der kinetischen Kunst manifestiert sich die menschliche Faszination physikalischer Bewegung. Das 20. Jahrhundert brachte den Menschen rasche gesellschaftliche Umschwünge und neuartige Technologien. Die kinetische Kunst ist Ausdruck dieses Wandels – und noch lange nicht am Ende. Zur Geschichte einer recht jungen Kunstform mit großer Zukunft.

von Marius Damrow, 16. January 2023

Kinetische Kunst drückt sich zumeist in dreidimensionalen Plastiken aus, die beweglich sind. Das griechische Wort kinesis (κῑ́νησῐς) bedeutet Bewegung. Das Kunstwerk kann dabei etwa durch den Wind, die Schwerkraft, maschinell oder computergesteuert angetrieben sein. Manche Kunsttheoretiker zählen auch die Op Art zur kinetischen Kunst: Hier scheint ein Objekt, wenn Betrachtende sich um das Werk bewegen, ebenfalls in Bewegung versetzt. Dies basiert auf optischen Täuschungen, weshalb die meisten Theoretiker Op Art als eigene Kunstform identifizieren.

Anfänge der kinetischen Kunst

Die Anfänge kinetischer Kunst sind auf das Ende des 19. Jahrhunderts zurückzuführen. Berühmte Maler wie Claude Monet setzten sich mit der Natur im Wandel auseinander. Seine 33 Gemälde umfassende Serie der Kathedrale von Rouen (1892-1894) zeigt das Gebäude in verschiedenen Lichtsituationen. Sie steht stellvertretend für das aufkommende Interesse an Bewegung und zeitlichen Verläufen. Im Zuge der Industrialisierung, die die Entwicklung zahlreicher neuer Maschinen förderte, und des Films reflektierte auch die Kunst die Anfänge des gesellschaftlichen Wandels.

Ein Vorläufer der kinetischen Kunst ist Marcel Duchamps Bicycle Wheel (1913/14). Das Ready-made enthält ein bewegliches Element – das Rad −, ist aber nicht als dauerhaft bewegliches Konstrukt gedacht. Die ersten Ausstellungsbesuchenden waren zwar aufgefordert, das Rad zu drehen, für Duchamp stand jedoch der Aspekt des gefundenen Objekts als Kunstwerk im Vordergrund. Das sich sinnlos drehende Rad hebt eher die satirische und sozialkritische Aussage Duchamps hervor.

Pettibone eignete sich Duchamps Werk an

Richard Pettibone

Marcel Duchamp, 'Bicycle Wheel', 1913-14

Found at Christies, New York
Post-War and Contemporary Art Day Sale, Lot 252
13. May - 13. May 2022
Estimate: 40.000 - 60.000 USD
Price realised: 50.400 USD
Details

Neben Duchamp wirkten vor allem der Konstruktivismus und Dada auf die kinetische Kunst. Der russische Bildhauer Naum Gabo entwickelte um 1920 seine Kinetic Constructions. Elektrisch betriebene Motoren setzen Stahlobjekte in Bewegung. Gabo arbeitete vor dem Hintergrund der Oktoberrevolution in seiner Heimat. Seine neuartigen Skulpturen sind Teil der Suche nach einer neuen, utopischen Gesellschaft, in der traditionelle Kunst keine Aufgabe mehr hatte.

Kinetische Kunst in ihrer Hochphase

Wie viele revolutionäre Kunstansätze der 1910er und 1920er Jahre kam auch die kinetische Kunst zunächst nicht über ihren experimentellen Status hinaus. Der Zweite Weltkrieg behinderte künstlerische und gesellschaftliche Entwicklungen und führte besonders im letzten Fall zu konservativen Ansichten zurück. Von den USA ausgehend verdrängte die abstrakte Malerei in den 1940er und 1950er Jahren dann wiederum die favorisierte figürliche Malerei aus den Galerien. Die progressive Einstellung zur Kunst kam der kinetischen Kunst zugute.

»Just as one can compose colors, or forms, so one can compose motions.« − Alexander Calder

Zwei ihrer bekanntesten Vertreter waren zu dieser Zeit sehr aktiv: Der US-Amerikaner Alexander Calder erntete mit seinen Mobiles weltweiten Ruhm und nahm an den ersten drei Ausgaben der documenta teil. Er hängte seine an Äste von Bäumen erinnernden Gebilde auf und setzte sie anschließend den Strömungen des Windes aus. Die Metallkonstruktionen wirken, als befände sich ihr Schwerpunkt im oberen Bereich der Plastik. Sie spielen durch den Antrieb des Windes mit der menschlichen Wahrnehmung von Schwere und Leichtigkeit. Auch der Schweizer Maler und Bildhauer Jean Tinguely entwickelte die kinetische Kunst mit seinen maschinenähnlichen Plastiken entscheidend weiter. Er gilt heute als ein Hauptvertreter dieser Kunstform.

In den 1960er Jahren erreichte die kinetische Kunst ihren Höhepunkt. Die Künstler Julio Le Parc und Nicolas Schöffer gewannen mit ihren kinetischen Werken bedeutende Preise auf den Venedig-Biennalen 1966 beziehungsweise 1968. Doch mit Anerkennung und Akzeptanz verlor die Bewegung ihren inhaltlichen Fokus als radikale neue Ausrichtung der Kunst. Der avantgardistische Geist verblasste, das Anti-Establishment-Ethos verlor sich immer mehr im allgemeinen Trend. Ironischerweise war es gerade der weltweite Erfolg, der den Niedergang der Bewegung zur Folge hatte.

Beispiele von Calder und Tinguely

Alexander Calder - Mobile [Maquette]
Auction
Contemporary Art Day Auction
May 2016
Sothebys, New York
Est.: 600.000 - 800.000 USD
Realised: 706.000 USD
Details
Jean Tinguely - Précision
Auction
Art Contemporain
December 2014
Christies, Paris
Est.: 30.000 - 40.000 EUR
Realised: 73.500 EUR
Details

Das Ende kinetischer Kunst?

Als Beispiel für die erfolglose Suche nach aktuellen kraftvollen Aussagen, die sich mit kinetischer Kunst tätigen ließen, dienen etwa Carsten Höllers Arbeiten aus den 1990ern. Seine an Geräte von Spielplätzen erinnernden Plastiken und Karusselle erweiterten die kinetische Kunst nur mit offensichtlichen Aspekten. Ein Karussell, das eine Viertelstunde für eine Umdrehung benötigt – ob die Zeit für die Rezipienten nun verlorene oder gewonnene ist, bleibt ihnen selbst überlassen.

Die rasante technologische Weiterentwicklung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts spiegelt sich in neuartigen Kunstwerken. Wurden motorbetriebene Arbeiten einige Jahrzehnte zuvor noch als kinetische Kunst bezeichnet, hat sich heute der Begriff Robotic Art etabliert. Laut Kunsttheoretikern existiert kinetische Kunst in ihrer ursprünglichen Form heute nicht mehr. Einzelne Kunstschaffende versuchen, den Begriff mit zeitgenössischen Technologien wiederzubeleben. Zuletzt schuf Beeple HUMAN ONE, das er als kinetische Skulptur beschrieb. NFT-Kunst verbindet sich hier mit klassischen Elementen kinetischer Kunstwerke wie der beweglichen metallenen Konstruktion. Ob Beeple, der zugleich den NFT-Hype zu neuen Höhen verhelfen will, auch die Rückkehr kinetischer Kunst angestoßen hat?

Beeple

HUMAN ONE

Found at Christies, New York
21st Century Evening Sale, Lot 7 A
9. Nov - 9. Nov 2021
Price realised: 28.985.000 USD
Details
»Machines have replaced the transcendental spiritualism of past eras.« − László Moholy-Nagy

Fest steht, dass bewegliche Kunstwerke aus der künstlerischen Praxis nicht mehr wegzudenken sind. Zu sehr werden Roboter und künstliche Intelligenzen den Alltag der Menschen bestimmen, als dass die Kunst dies nicht reflektieren wird. Einen Neubeginn kinetischer Kunst versuchte William Kentridge mit mehreren Bicycle Wheels, Erweiterungen von Duchamps Arbeit. Sie sind mit Sprachrohren ausgestattet und verweisen auf eine heute übersehene Kunstform, die aktueller ist als allgemein geglaubt wird.

Und auch auf dem Auktionsmarkt zeichnet sich eine Entwicklung ab: Kinetische Kunstwerke des frühen 20. Jahrhunderts verzeichneten in den letzten zehn Jahren signifikante Preissteigerungen von teilweise über 100%. Auch wenn der Kunststil in seiner ursprünglichen Form nicht mehr aktiv ist, zeigt die kinetische Kunst in der heutigen Szene und auf dem Markt immer noch Lebenszeichen.Art.Salon

Referenz an Duchamp von 2016

William Kentridge

South African kinetic Sculpture (Bicycle Wheel)

Found at Sothebys, London
Modern & Contemporary African Art, Lot 88
16. Oct - 16. Oct 2018
Estimate: 70.000 - 90.000 GBP
Price realised: 81.250 GBP
Details
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Künstler der Zukunft?

Beeple: Vor wenigen Jahren noch ein Webdesigner mit zwei Millionen Followern, der in seiner Freizeit digitale Kunstwerke erstellt. Seit 2021 ist er weltweit bekannt als drittteuerster lebender Künstler hinter Jeff Koons und David Hockney. Wie kam es zu diesem kometenhaften Aufstieg und welche Rolle spielen NFT für Beeple – und welche spielt er für NFTs?

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»Robert Frank: Mary’s Book« im Museum of Fine Arts Boston

Robert Frank war ein einflussreicher Fotograf des 20. Jahrhunderts. Das Museum of Fine Arts Boston stellt in Robert Frank: Mary’s Book ein ganz persönliches Fotobuch aus den jungen Jahren des Künstlers vor. Die Schau eröffnet am 21. Dezember.

21. December 2024