Künstlerduo yav aus St. Petersburg

Kunst gegen die Staatsmacht - von der Straße in die »Augmented Reality«

Die Künstlergruppe yav aus St. Petersburg bezieht Stellung gegen die politische Situation in Russland. Um der Flüchtigkeit ihrer Street Art etwas entgegenzusetzen, hat sie eine App entwickelt, die Straßenkunst dauerhaft bewahrt und neue Möglichkeiten für Kunst im (virtuellen) öffentlichen Raum schafft.

von Felix Brosius, 04. October 2021

Als der russische Oppositionelle Alexej Nawalny am 18. Januar 2021 nach einer mehrmonatigen Behandlung der Folgen eines Giftanschlags aus Deutschland nach Russland zurückkehrte, wurde er unmittelbar nach der Landung in Moskau verhaftet. Vier Tage später war in der Liteyniy-Allee 37-39 in St. Petersburg auf der Rückwand eines Trafo-Häuschens das Bild »Терпение« (Geduld) zu sehen. Es zeigt einen fast leeren Ladebalken, der ausdrücken soll, dass die Geduld in Teilen der russischen Bevölkerung nach Jahren in einem Land, geprägt von Korruption, politischer Verfolgung, schlechter wirtschaftlicher Entwicklung und einem immer weiter ausufernden Verbotssystem, bald am Ende ist.

Patience by yav
Street-Art-Bild »Терпение« (Geduld) des russischen Künstler-Duos yav

Russland: Eine Gesellschaft im Dauerstress

Hinter dem Bild steckt das Künstlerduo yav, das seit 2015 mit den Mitteln der Street Art Aspekte von Demokratie, Feminismus und Wissenschaft thematisiert. Dabei stand  von Beginn an die politische Botschaft im Vordergrund, Street Art erschien ihnen lediglich als geeignetes Medium, ihre Überlegungen und Ideen zu transportieren. Sie sahen sich zu dem Zeitpunkt nicht in einer bestimmten künstlerischen Tradition, kannten sich in der Street-Art-Szene nicht aus, hatten noch nicht einmal von dem Künstler Banksy gehört. Sie suchten lediglich Flächen im öffentlichen Raum, um ihre Botschaften zu transportieren, und fanden diese in kahlen Wänden von Industrie- und Zweckbauten, aber auch mal auf der Eisfläche eines zugefrorenen Flusses sowie im virtuellen Raum. Von Beginn an mieden sie die Wände architektonisch ansprechender sowie historischer Gebäude – sie wollen das Stadtbild mit ihrer Street Art bereichern, nicht beschädigen.

»There are a huge number of outrageous laws being passed in Russia restricting freedom of speech, freedom of expression.«

Anlass für ihre Botschaften finden sie reichlich. So attestieren sie der russischen Bevölkerung eine permanente Grundanspannung, ausgelöst durch täglich neue Nachrichten über die Verhaftung von Oppositionellen, einschüchternde Wohnungsdurchsuchungen und die Abwanderung von Intellektuellen. Es bestehe eine ganze Reihe empörender Gesetze, die die Meinungs- und Redefreiheit einschränkten, und laufend würden neue willkürliche Regeln und Verbote erlassen. Eines von zahlreichen Beispielen sei die behördliche Prüfung eines Verbots des harmlosen, aber sehr populären Kinderspielzeugs Pop It, das der Beschäftigung und Beruhigung, vor allem aber dem Stressabbau bei Kindern dienen soll. Für die beiden yav-Künstler damit das ideale Sinnbild, um auf den permanenten Stress aufmerksam zu machen, dem die russische Bevölkerung ausgesetzt ist – und so ist am 6. Juni 2021 ein Abbild dieses Spielzeugs auf einer Wand in St. Petersburg zu sehen, in jeder Zeile beschriftet mit dem Wort »Stress«.

Stress by yav
yav verarbeitet das Kinderspielzeug Pop It als Street Art, in jeder Zeile das Wort »Stress«

Ein Duo aus Jura und Tattoo-Kunst

Die beiden Personen hinter yav sind Anastasia Vladychkina und Alexander Voronin. Dabei kann man wohl sagen, dass Vladychkina der politische Kopf hinter den Botschaften ist, die Voronin künstlerisch umsetzt. Vladychkina ist studierte Juristin und arbeitete mehrere Jahre als Anwältin. In dieser Zeit war sie immer wieder mit den unmittelbaren Auswirkungen der Politik auf das alltägliche Leben der Menschen in Russland konfrontiert und hat sowohl die Perspektive der Opposition als auch die von Pro-Regierungs-Organisationen kennengelernt. Von früheren Überlegungen, selbst Politikerin zu werden, hat sie inzwischen Abstand genommen und stattdessen noch während ihrer Tätigkeit als Anwältin das Street-Art-Projekt yav begonnen. Heute versteht sie sich als politischer Mensch ohne Ambitionen auf politische Funktionen.

Artist Duo yav
Foto: Собака.ру magazine
Anastasia Vladychkina und Alexander Voronin bilden das Künstlerduo yav

Eine gewisse Furchtlosigkeit ist dem Künstlerduo kaum abzusprechen, auch wenn die beiden Künstler vorgeben, sie hätten nichts zu befürchten, da sie schließlich nichts Verkehrtes täten und Zuspruch von der Öffentlichkeit erhielten. Vielleicht eignet man sich eine solche Furchtlosigkeit an, wenn das Leben schon so dramatisch beginnt wie im Falle von Vladychkina, bei der gleich nach der Geburt ihr klinischer Tod festgestellt wurde. Das zweite Leben, das sie geschenkt bekommen hat, will sie nun nicht ungenutzt lassen, wer schon einmal tot war, brauche nichts mehr zu fürchten. In Voronin hat sie dabei einen kongenialen Partner gefunden, der als Designer und Tattoo-Künstler die politischen Botschaften in künstlerische Arbeit übersetzt und die Street-Art-Motive ausgestaltet. Beide gemeinsam transportieren sie ihre Ideen und Konzepte in die reale, physische Welt – ganz ihrem Namen yav entsprechend, der auf ein Fabelwesen zurückgeht, das in der Phantasie geboren und schließlich im Realen erschienen ist.

»We are not afraid of the police as we are not doing anything wrong, and we are supported by the audience.«

Fortsetzung der Street Art in der virtuellen Realität

Zur Realität von Street Art gehört aber auch, dass diese flüchtig ist, nie auf Dauer angelegt, oft bereits nach kurzer  Zeit übermalt, im Falle der Arbeiten von yav häufig schon nach 24 Stunden. Das Bild »Geduld« etwa, mit dem yav auf die Verhaftung Nawalnys reagiert hatte, war gerade einmal neun Stunden lang zu sehen. Dennoch kann weiterhin jeder Passant, der in St. Petersburg an der Liteyniy-Allee 37 vorbeikommt, das Kunstwerk auf der Wand des Trafohäuschens betrachten. Alles, was man dazu benötigt, ist die von yav entwickelte Handy-App AR Hunter. Wer diese App öffnet und die Handy-Kamera gegen die inzwischen wieder kahle Wand des Häuschens richtet, sieht auf seinem Display die Live-Umgebung, erweitert um das auf die Wand eingespielte Bild des fast leeren Ladebalkens.

Und nicht nur dieses Bild lässt sich mit  der App wieder zum Vorschein bringen, auch zahlreiche weitere Arbeiten von yav und anderen Street-Art-Künstlern sind darin dauerhaft bewahrt. Die Kunst kann damit nur noch im realen Raum übermalt werden, in der erweiterten Realität bleibt sie dennoch dauerhaft erhalten. So beispielsweise auch die Serie »Fairy Tale«, mit der yav die aktuelle Situation in Belarus thematisiert – Belarus, dargestellt als Gefangene des unsterblichen Bösewichts Koshchei, einer in Russland weithin bekannten Märchenfigur, ein Land, das nach dem Versuch, sich zu befreien, vom Militär bedroht wird, während sich Russland in Teil II der Serie vor die Wahl gestellt sieht, von einer Klippe zu springen oder einen vergifteten Apfel zu essen und in einen Tiefschlaf zu fallen.

Fairy Tale I by yav in AR Hunter
Teil I der Street Art-Serie »Fairy Tale« mit der App AR Hunter auf die inzwischen wieder übermalte Wand projiziert

Dabei ist das Bewahren ihrer eigenen Kunst nur eine von zahlreichen Anwendungen der App. Ohnehin sind auch anderen Street-Art-Künstler eingeladen, ihre Arbeiten mit AR Hunter  zu konservieren, ebenso lässt sich mit der App aber auch rein virtuelle ortsbezogene Kunst erschaffen, die in der realen Welt so nie existiert hat. Dabei lassen sich nicht nur Bilder, sondern auch Objekte in den realen Raum einspielen und damit umfangreiche Interventionen im virtuell erweiterten öffentlichen Raum vornehmen.

Bisher enthält die App, die derzeit nur in russischer Sprache zur Verfügung steht, zahlreiche Einträge aus St. Petersburg, Moskau, Jekaterinburg und Nischni Nowgorod, sie ermöglicht aber schon heute weltweit die Schaffung erweiterter Realitäten und wird von yav demnächst auch auf Englisch, Deutsch und Französisch bereitgestellt. Ein spannendes Spielfeld für Künstler, nicht nur, um Street Art dauerhaft zu konservieren, sondern auch, um neue Ausdrucksformen zu erproben, nicht zuletzt auch in solchen Ländern, in denen politische oder gesellschaftskritische Kunst im realen öffentlichen Raum für die Künstler ein zu hohes Risiko birgt.Art.Salon

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