Ein Bildhauergenie aus Amerika

Wer war Emma Cadwallader-Guild?

Eine US-amerikanische Bildhauerin in Europa: Emma Cadwallader-Guild war Ende des 19. Jahrhunderts die Künstlerinnensensation. Als Autodidaktin erkämpfte sie sich den Ruf als Genie ihres Fachs. Heute ist sie weitestgehend vergessen. Viele ihrer Büsten und Statuen sind verschollen.

von Marius Damrow, 31. July 2023

»Die Arbeiten von Mrs. Guild zeigen ein unverkennbares Talent und einen so frischen, freien Geist der Originalität, dass man dem angeblichen Diktum Berlins, Mrs. Guild sei ‘das größte Genie der Bildhauerei, das Amerika je hatte‘, fast zustimmen kann«, beurteilte eine Bostoner Zeitung  Emma Cadwallader-Guilds Arbeit anlässlich einer Ausstellung im Jahr 1903. Die Bildhauerin lebte zu diesem Zeitpunkt seit über 20 Jahren in Europa und war dort inzwischen eine kleine Berühmtheit geworden. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts eilte ihr Ruf ihr auch ins Heimatland, die USA, hinterher. Kurz vor ihrem 180. Geburtstag blickt der Art.Salon auf die Laufbahn der einstigen Leitfigur zurück, die seit langem fast vergessen ist.

Die frühen Jahre in Amerika

Emma Cadwallader-Guild arbeitet an Elektron
gemeinfrei
Emma Cadwallader-Guild arbeitet an Elektron, ca. 1895

Emma Cadwallader kam am 27. August 1843 in Zanesville, Ohio zur Welt. Ihr Vater, ein Arzt, stammte aus einer englischen Familie, ihre Mutter malte Ölgemälde und Aquarelle und führte ihre Tochter an die Kunst heran. Mit 18 heiratete Cadwallader einen unitarischen Pfarrer namens Edward Chipman Guild (1832-1899), mit dem sie in Boston zwei Kinder aufzog. Sie vertiefte ihr Interesse in die Malerei, malte Stillleben und Landschaften und stand im Austausch mit lokalen Künstlern. Wie Cadwallader-Guild zur Bildhauerei fand, ist in einer Erzählung überliefert.

Eines Morgens im Jahr 1876 ging sie in Boston über den Markt, als sie einen Schwarzen Mann sah, der sich niedergeschlagen an einem der Stände anlehnte. Sie sei so fasziniert von diesem Anblick gewesen, dass sie – ohne je zuvor bildhauerisch gearbeitet zu haben – ein Bozzetto aus Ton formte. Wochenlang soll sie damit zugebracht haben, das Modell zu bearbeiten. Schließlich ließ sie die Bronzefigur in Italien gießen und versah sie mit dem Titel Free.

Dementgegen gibt es aber auch Hinweise darauf, dass Cadwallader-Guild bereits 1875 an einem Bozzetto zu einem lebensgroßen David gearbeitet haben soll. Wie genau sie tatsächlich zur Bildhauerei fand, wird wohl ein Geheimnis bleiben. Doch es hat den Anschein, dass es recht plötzlich geschehen sein muss und sie schnell merkte, wo ihr wahres Talent lag. Bis zu ihrem Lebensende erhielt sie viel Lob für ihre herausragenden Statuen und Büsten.

Free zeigt einen im Lendenschurz bekleideten Schwarzen Mann, der nach unten blickend an einen hüfthohen Baumstumpf lehnt. Seine Arme sind auf dem Rücken verschränkt, sodass seine Handgelenke wie gefesselt wirken. Tatsächlich sind seine Hände aber frei. Die Statue wird als Interpretation der Lebensverhältnisse Schwarzer Menschen in den USA nach dem Ende der Sklaverei verstanden: Auf dem Papier waren sie frei, doch die Gesellschaft unterdrückte sie weiterhin – damals eine bahnbrechende Neuerung, diesen Umstand zum Inhalt einer Plastik und damit zu den hohen Künsten zu erklären. Cadwallader-Guild schuf mit Free eine aufsehenerregende Figur, die Jahre später in ihrem Studio in London zur regelrechten Attraktion avancierte. Heute gehört sie einem Nachfahren der Künstlerin. Öffentlich bekannt ist lediglich eine Kopie in Holz von Otto Braun.

Free von Otto Braun, 1911, nach Emma Cadwallader-Guild
Foto von 2019. Gemeinfrei
Free von Otto Braun, nach Emma Cadwalader-Guild. 1911, Original nach 1876, Amerikanische Linde, Crystal Bridges Museum of American Art

Emma Cadwallader-Guild war Autodidaktin und schuf ihre Statuen nach Studien und Skizzen existierender Skulpturen. Als Frau war es ihr nicht gestattet, einen nackten Mann Modell stehen zu lassen. Zusätzlich besuchte sie Anatomiekurse, um ihr Wissen über den menschlichen Körper zu vertiefen. Berühmt wurde Cadwallader-Guild vor allem durch ihre Büsten von bedeutenden Persönlichkeiten und Politikern, doch auch ihre mythologischen und sakralen Figuren fanden wegen ihrer Originalität und der hohen handwerklichen Qualität bei Kunstkritikern großen Anklang. Viele Statuen, Statuetten und einige Büsten sind heute verschollen. Ein paar von ihnen sind durch alte Fotografien überliefert. Im Jahr 2018 hatten Kunstsammelnde die seltene Gelegenheit, Cadwallader-Guilds Bronzestatuette Endymion (ca. 1896) zu ersteigern.

Künstlerische Erfolge in Europa

Mitte der 1880er-Jahre siedelte die Künstlerin mit ihren Töchtern nach London über und eröffnete ein Atelier in der 76 Fulham Road. Die Gründe für den Umzug sind nicht bekannt. Ihr Ehemann musste weiterhin in seiner Kirche in den USA predigen. In England erlangte Cadwallader-Guild mit Free Bekanntheit und entwickelte sich zur gefragten Porträtistin. Sie bildhauerte Büsten des britischen Künstlers George Frederic Watts und des deutschen Malers Hans Thoma sowie von zahlreichen Adeligen wie der Prinzessin Helena von Großbritannien und England. Wie hoch ihr Ansehen war, verdeutlichen die Hintergründe zur Büste des britischen Premierministers William Gladstone: Er stand ihr persönlich Modell, was er sein Leben lang bei keinem anderen Bildhauer getan hatte.

Die Faszination um ihre nahezu lebendig wirkenden Abbildungen strömte schließlich bis in ihr Heimatland. Einige Male reiste sie in die USA, um Aufträge für Büsten auszuführen. Regelmäßig stellte Cadwallader-Guild in der Royal Academy in London aus. Nach Free im Jahr 1885 und einem Stillleben 1986 zeigte sie in den folgenden Jahren mehrere Büsten und Medaillons sowie die oben erwähnte Statuette Endymion. Sie nahm zudem an Ausstellungen im Glaspalast in München, dem Pariser Salon und im Glasgow Institute of Fine Arts teil. Später, im Jahr 1904, gewann sie auf der Weltausstellung in St. Louis eine Bronzemedaille.

Büste von G.F. Watts von Emma Cadwallader-Guild
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Bronzebüste G. F. Watts von Emma Cadwallader-Guild, 1891

Emma Cadwallader-Guild wohnte, wie aus den Aufzeichnung der Royal Academy hervorgeht, auch einige Jahre in Frankfurt, Hamburg und Berlin. Die deutsche Hauptstadt war ab 1897 gar ihr Hauptwohn- und -arbeitsort, an dem auch ihr Ehemann nach seiner Pensionierung ab 1897 nachweislich mit ihr lebte. In den verschiedenen deutschen Städten zeigte sich die Künstlerin als geschickte Networkerin und auch in Italien, wo sie die großen Bildhauer der vergangenen Jahrhunderte studierte, knüpfte sie schnell Kontakte. Details über diesen Lebensabschnitt der Künstlerin sind nicht erhalten, doch schien sie neben ihrem künstlerischen Talent auch eine Begabung für die Vermarktung ihrer eigenen Person und Arbeit innezuhaben: Von ihrem Vermögen konnte sich die Künstlerin eine Villa im damals weltberühmten Bad Homburg kaufen.

Vergessen im 20. Jahrhundert

Um das Jahr 1905 zog Emma Cadwallader-Guild zurück in die USA, um gut bezahlte Auftragsarbeiten zu erledigen. Hier verliert sich ihre Spur, sie starb vermutlich im Jahr 1911. Die meisten ihrer Werke befanden sich in Privatbesitz, weshalb museale Ausstellungen schwierig zu organisieren waren. So verschwand die Künstlerin nach ihrem Tod schnell aus dem kunsthistorischen Gedächtnis. Da es sich bei den meisten ihrer Kunstwerke um Büsten handelte, die im frühen 20. Jahrhundert aus der Mode gerieten, sahen Kunsthistoriker angesichts der radikalen Neuerungen der Moderne wohl wenig Anreiz, Informationen über das Œuvre der Bildhauerin für die Nachwelt zu erhalten.

Wahrscheinlich haben die Wirrungen der beiden Weltkriege dazu beigetragen, dass die Aufenthaltsorte der meisten Statuen und Büsten heute nicht mehr nachvollzogen werden können. Zu den wenigen Ausnahmen gehört Cadwallader-Guilds Bronzeplastik Elektron von 1895 im Museum für Kommunikation in Frankfurt. Sie zeigt den griechischen Gott Hermes, der sich schneller als das Licht bewegen konnte und unter anderem für Rhetorik und Magie verantwortlich war, wie er neugierig eine Morsetaste bedient: eine Allegorie für den Fortschritt der Technologie, die alles dagewesene in den Schatten stellte. Die Künstlerin schuf auch eine Marmorversion von Elektron (s. Bild oben). Eine Möglichkeit, ihre Arbeit in den USA zu sehen, bietet sich in Washington, D.C.: Die 1901 gefertigte Büste des US-Präsidenten William McKinley steht im Kapitol.Art.Salon

Büste der Lotus von Emma Cadwallader-Guild
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Eine Büste von Lotus von Emma Cadwallader-Guild, 1904
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