Kann man ein altes Bild eines berühmten Malenden betrachten und bewerten, ohne sich des Ruhmes ständig bewusst zu sein? Das Wissen ums Renommee bringt eine Erwartungshaltung mit sich, die zum Entstehungszeitpunkt gar nicht abzusehen war. Die Arbeit muss qualitativ hochwertig sein, sonst wäre Schöpfer oder Schöpferin ja nicht berühmt geworden – eine eingehende Analyse scheint nicht mehr nötig. Mit der Ausstellung Lucian Freud: New Perspectives wagt die National Gallery in London den Versuch, genau diese Problematik zu umgehen und objektiv zu urteilen. Sie untersucht Gemälde aus über 70 Jahren, zeigt die Entwicklung Freuds auf und rückt seine kompromisslose Hingabe für die Malerei in den Fokus.
Lucian Freud (1922-2011) ist einer der bekanntesten Maler des letzten Jahrhunderts. Seine monumentalen, aufsehenerregenden Nacktporträts jenseits allgemeiner Schönheitsideale sind auch Nicht-Kunstkennern ein Begriff. Dem britischen Künstler standen dafür enge Freunde und Familienmitglieder Modell. Er fertigte auch kleine intime Porträts, Interieurs und Stillleben. Zu Beginn seiner Karriere ließ Freud sich vom Surrealismus inspirieren, ab den 1950ern entwickelte er einen immer radikaleren Realismus.