euward – europäischer Kunstpreis für Malerei und Grafik im Kontext geistiger Behinderung

Autodidakt mit Handicap sucht Sprungbrett in den Kunstmarkt

Bombenabwürfe im Zweiten Weltkrieg mit Kugelschreiber nachgezeichnet, lithografische Selbstporträts, abstrakte Dschungelszenen, gemalt mit Farbstiften – drei Themen, drei Stile, drei Preisträger des euward 2021. Der europäische Kunstpreis zeichnet ausschließlich »Outsider Art« aus. Er kann der Anfang einer Karriere sein.

von Bettina Röhl, 10. April 2022

Andreas Maus greift ins Regal und zieht ein schwarzes Buch heraus. Sein Anne-Frank-Buch. Er öffnet es und beschreibt die Motive seiner Bilder. »Und jetzt hier sind die ganzen Folterszenen aus dem Dritten Reich«, sagt er. Maus beschäftigt sich in seinen Bildern vorzugsweise mit dem Zweiten Weltkrieg. Er malt die Szenen mit farbigen Kugelschreibern. Er kritzelt, strichelt, reiht Kringel aneinander. Seine Ästhetik ist immer dieselbe: Eine brennende Frau im Bombenhagel auf Deutschland 1940 zeigt eine unbekleidete weibliche Figur in gestrichelten grünen und schwarzen Flammen. Ihre Augen sind rot, ihr Mund zum Schrei geöffnet. Sie reißt die Arme in die Luft. Haare hat sie keine. Der Hintergrund ist aus roten Kreisen zusammengesetzt, vom Himmel fallen blaue Bomben. Unmissverständlich platziert Maus darüber die Inschrift: »Der Bombenkrieg ließ auch in Deutschland die Zivilbevölkerung nicht verschont. 1940-1945.« 

Es ist eine Szene aus dem Vorstellungsvideo des Künstlers Andreas Maus auf der Website des euward; ein Kunstpreis, der eine Besonderheit auf seinem Gebiet darstellt: Es ist der »Europäische Kunstpreis für Malerei und Grafik im Kontext geistiger Behinderung«. Maus belegte 2021 den ersten Platz.

Andreas Maus, Eine brennende Frau im Bombenhagel auf Deutschland 1940. Der Bombenkrieg ließ auch in Deutschland die Zivilbevölkerung nicht verschont. 1940-1945. Buchtitel: „Ausgelöscht für immer“, 2019, Kugelschreiber auf Papier, 30 x 42 cm
© KunsthausKAT18
Andreas Maus, Eine brennende Frau im Bombenhagel auf Deutschland 1940. Der Bombenkrieg ließ auch in Deutschland die Zivilbevölkerung nicht verschont. 1940-1945. Buchtitel: „Ausgelöscht für immer“, 2019, Kugelschreiber auf Papier, 30 x 42 cm

Der einzige internationale Preis seiner Art

Der euward wird organisiert von der Augustinum Stiftung, als Teil eines gemeinnützigen Sozialunternehmens aus München. Seit 2000 verleiht die Stiftung den Preis alle drei Jahre; 2021 bereits zum 8. Mal. »Der euward ist als renommiertester und einziger internationaler Preis in diesem Spektrum der Kunst sehr begehrt«, erzählt Klaus Mecherlein, Initiator, Organisator und Kurator des Preises. Zu gewinnen gibt es 8.000 Euro Fördergelder. Obendrauf kommen eine Ausstellung im Haus der Kunst in München und ein Katalog. Was die potenziellen Preisanwärterinnen und Preisanwärter angeht, »zielt der euward auf vom Kunstmarkt noch unentdeckte, unbekannte Künstler*innen«, erläutert Mecherlein. Der Anspruch sei es, die künstlerische Qualität der »kulturellen Außenseiter« sichtbar zu machen und ihre Bedeutung für die Kunst damit zu erschließen. Rein soziale Aspekte spielen laut dem Initiator dabei keine Rolle. Der Preis wird offen und öffentlich ausgeschrieben, europaweit. 

Alle Interessierten bewerben sich mit einer Mappe um die Teilnahme. Ausgewählt wird dann über eine Vorjurierung durch das euward-Kuratorium. Die sieben Mitglieder des Kuratoriums nominieren 20 potenzielle Gewinnerinnen und Gewinner über eine Mehrheitsentscheidung und reichen sie dann an die Endjury mit den Originalen weiter. Die besteht aus fünf unabhängigen internationalen Expertinnen und Experten für zeitgenössische Kunst und Outsider Art. Über die Plätze eins bis drei wird schließlich wieder mehrheitlich abgestimmt. Wie beliebt der Preis ist, wird auch bei einem Blick auf die Teilnehmerzahlen klar: Teilweise bewerben sich so viele Künstlerinnen und Künstler, dass es für die Jury schon beinahe zur »einschüchternden Herausforderung« wird, wie Carla Schulz-Hoffmann, eines der euward-Jury-Mitglieder, beschreibt. 2021 habe sie mit dem Kollegium fast 400 Bewerbungsmappen mit je sechs DIN-A4-Abbildungen durchgesehen. 

Eine Karriere im Kunstmarkt ist möglich 

Aus den Niederlanden hat sich der Künstler Kar Hang Mui beworben. Im Video sagt er nichts außer seinen Namen. Den Drittplatzierten begleitet die Kamera dabei, wie er mit verschiedenen Buntstiften arbeitet. Er zieht eine Schublade auf: Sie beherbergt zahllose Stifte, die bis auf einen Stumpf zurecht gespitzt worden sind. Die meisten seiner Werke kommen ohne Titel aus. So auch die Dschungelszene – ein Mix aus figurativen und abstrakten Blumen, Pflanzen, Tieren und Figuren. Er spielt darin mit den Dimensionen. Vor dem gestrichelten, mintgrünen Himmel erhebt sich eine Felsformation, in die er eine zweidimensionale Brücke integriert und schwarze Figuren darüber schreiten lässt. Unter der Brücke blühen Fantasieblumen in Grün, Lila, Gelb, Rot und Türkis. Eine riesige Schlange bewegt sich von links in das Bild. Rechts steht eine Palme. Abstrakte und gut erkennbare Tiere fliegen in der Luft oder waten durch das grüne Wasser, das am unteren Bildrand entlang verläuft: ein Krokodil, eine Giraffe, Papageien, Eulen und ein Gepard.

Renommierte Kunstpreise bereiten in der Regel den Weg in einen neuen Karriereabschnitt. Gilt das auch für den euward? »Der euward gibt oft den Anstoß zu einer internationalen Bekanntheit und breitem Interesse von Sammlern und Kunstmarkt. Gelingt es, dieses Interesse am Leben zu erhalten und die Fantasie der Sammler nachhaltig zu beflügeln, ist eine dauerhafte Karriere möglich und schon mehrfach eingetreten.« Für Mecherlein ist das ein klares Ja. Er nennt Beispiele, wie etwa Josef Hofer, den Preisträger des euward3. Er sei heute einer der Klassiker der »Art Brut«. Dann schiebt er noch zwei weitere Namen nach: Peter Kapeller, Preisträger euward5, er ist im Programm der wichtigsten europäischen Art-Brut-Galerie in Paris, und Uschi Pomp, Preisträgerin euward2. Sie ist mit sechzig Arbeiten in der Sammlung Arnulf Rainer vertreten, der größten privaten Sammlung von »Art Brut« und »Outsider Art«. 

Kar Hang Mui, Ohne Titel, 2010, Farbstift auf Papier, 70 x 100 cm
© Atelier de Kaai, Goes, NL
Kar Hang Mui, Ohne Titel, 2010, Farbstift auf Papier, 70 x 100 cm

Art Brut und Outsider Art: Chance oder Stigma? 

In Mecherleins Aufzählung steht es außer Frage, die Künstlerinnen und Künstler in das Genre der »Outsider Art« einzusortieren. Auf der Website des euward heißt es dazu weiter, dass die Kunst von Autorinnen und Autoren mit einer geistigen Behinderung eine eigene künstlerische Szene innerhalb der Outsider Art bilde, dass sie sich als »Kunst im Kontext geistiger Behinderung« auf den ursprünglichen Begriff der »Art Brut« beziehen könne, differenziert Mecherlein weiter. 

Die »Art Brut« geht auf Jean Dubuffet (1901 – 1985) zurück und ist dessen ursprüngliche Entgegnung auf den damals noch seit der Jahrhundertwende kursierenden Begriff der »Psychiatrischen Kunst«. Dubuffet löste die Identifikation dieser als eigentümlich wahrgenommenen künstlerischen Praxis mit Krankheit, Leid und menschlichen Defiziten auf und schlug sie endgültig dem Bereich der »Kunst« zu, erläutert uns Mecherlein. Dabei habe er die Quelle dieser »rohen« Kunst vollständig im eigenen Inneren der Künstler gesehen, also unberührt von Einflüssen der von ihm so genannten »kulturellen Kunst«, das heißt, akademisch o. ä. geschulte Kunstproduktion. Dass seine schöpferische Theorie in dieser Reinform nicht haltbar war, habe Dubuffet bereits selbst gesehen. Der habe den Begriff immer wieder neu und anders erklärt und sei gegen die unberechtigte Nutzung juristisch vorgegangen – die »Art Brut« sei letztlich das, was er in seiner »Collection de l’Art Brut« zusammengetragen habe. 

Auf die problematische Kategorisierung dieser Kunstrichtung weist auch der zweitplatzierte Felix Brenner in seinem Video hin. »Ich bin Künstler geworden, irgendwie. Warum weiß ich nicht«, erzählt er. Seine Vita liest sich wie ein Abenteuerroman: Er läuft mit 13 von zu Hause weg, gerät in die Drogenszene, konsumiert jahrelang. Die alternative Kulturszene ist in dieser Zeit Teil seines Lebens: 1987 gründet er die Kunst- und Politikbewegung Blauer Planet, übt die Praxis in Grafikkursen an der Schule für Gestaltung in Basel und erhält ein Stipendium für einen Aufenthalt in New York. Der Vorstellungsfilm zeigt ihn, wie er in seinem Atelier, einer offenen Garage, an einer Lithografie arbeitet: »Ob ich jetzt geistig behindert bin, ich weiß nicht so recht. Da bin ich auch ein Outsider-Künstler im Prinzip«, hört man Brenners Stimme aus dem Off. Der Mann mit der zauseligen Erscheinung wolle seinen eigenen Kunststil schaffen. Er glaube, dass seine Kunst außerordentlich sei: »Von dem her gesehen bin ich sicherlich ein Outsider-Künstler, aber kein Art-Brut-Künstler.« 

Eine der Lithografien, für die er ausgezeichnet wurde, zeigt ihn selbst in Nahaufnahme, die Lippen geschürzt, die mittellangen Haare stehen strähnig ab. Brenner hat sie mit orangefarbenen geschwungenen Linien nachgezeichnet. Die Ränder des Bildes hat er mit einem gestrichelten blauen Rand versehen, wie ein Polaroid-Foto. Das blass-beige Gesicht unterstützt den Schein einer alternden Fotografie. Brenners bewegtes Leben hat seine Spuren im Gesicht mit den weit aufgerissenen Augen hinterlassen. Er selbst interpretiert die Outsider Art für sich nicht als Nachteil.

Felix Brenner, Selbstporträt, 2014, Lithografie, 49,7 x 35,2 cm
© Felix Brenner
Felix Brenner, Selbstporträt, 2014, Lithografie, 49,7 x 35,2 cm

Die Arbeiten der drei Prämierten unterscheiden sich stilistisch gravierend, zugeordnet werden sie alle gleichermaßen der Outsider Art. Zur Frage, ob das nun eher Stigma oder Chance bedeutet, äußert sich Jurymitglied Schulz-Hoffmann mit einem »Weder noch«. Die Frage zeige ihrer Ansicht nach eigentlich nur die generelle Problematik eindimensionaler Kategorisierungen auf. Zum besseren Verständnis entführt uns Schulz-Hoffmann kurzerhand in die Geschichte des Begriffs, der zwar eine semantische Nähe zur »Art Brut« habe, aber trotzdem anders verwendet werde. Die »Art Brut« sei von Jean Dubuffet entwickelt worden, um »eine subversive, alternative Kunstform, für die ohne Wenn und Aber der Terminus Kunst gelte« zu kreieren. Er habe damit zeigen wollen, dass es nicht die eine Kunst von »Geisteskranken und eine von Magen- oder Kniekranken« gebe. Demgegenüber stehe laut Schulz-Hoffmann die »Outsider Art«. Sie wurde von Roger Cardinal definiert und habe sich als englische Variante der »Art Brut« weltweit durchgesetzt. Mecherlein erklärt uns dazu, dass »der Outsider Artist bei Cardinal kein diskriminierter, sozialer Außenseiter sei, sondern ein ungewollter Avantgardist, der von outside des allgemeinen Mainstream auf die Kunst einwirkt und sie vom Rande her inspiriert und erweitert«.

»In der Differenz wird klar, wie schwammig die Vorstellungen über das Thema sind, worum es den Einzelnen geht und wie missverständlich der Ausgangspunkt vielfach bleibt«, so Schulz-Hoffmann. Der negativ konnotierte Terminus Outsider, der die Ausgrenzung qua definitionem in sich berge, werfe ein bezeichnendes Licht auf dieses Dilemma: »Mein Plädoyer: Sprechen wir lieber von Kunst

Der euward fördert einen offenen Diskurs

Unabhängig davon, ob die euward-Gewinnerinnen und -Gewinner nun in die »Art Brut« oder die »Outsider Art« kategorisiert werden, fördert der Preis doch einen offenen Diskurs. Die Beteiligten sind sich des sensiblen Themas bewusst und so betont auch Schulz-Hoffmann, dass es ihr primär darum gehe, die Künstlerinnen und Künstler unabhängig von Schubladen einfach offen zu betrachten, so wie es die Basis jeder Auseinandersetzung mit Kunst sein sollte. Beflügelnd sei für sie an der Arbeit, dass der Kunstpreis allen Beteiligten ein dichtes und inspirierendes Forum biete, sich mit existentiellen Themen der Kunst, ja, des Lebens allgemein auseinanderzusetzen. Das habe sie nicht nur aus den Jurysitzungen, sondern auch aus dem Dialog mit den Teilnehmenden mitgenommen. 

Der euward gibt Menschen ohne geradlinige akademische Laufbahn, ohne die richtigen Kontakte oder ausreichende Unterstützung eine Chance. Er fungiert für einige von ihnen durchaus als Sprungbrett in den internationalen Kunstmarkt. Die Teilnahme unter der Prämisse »Outsider Art« verhindert nicht den Kauf, die Ausstellung oder die Untervertragnahme durch größere Museen oder Galerien – wie die Fälle Peter Kapeller und Uschi Pomp beweisen. Man könnte sagen, dass sie den eher statischen Kunstmarkt für diesen Diskurs öffnet.Art.Salon

Preisverleihung des euward8 im Haus der Kunst in München am 29. April 2021. Von links: Klaus Mecherlein (euward-Kurator), Joachim Gengenbach (Vorstand Augustinum Stiftung), Sabine Brantl (Kuratorin Haus der Kunst), Andreas Maus (1. Preis) und Felix Brenner (2. Preis). Der 3. Preisträger Kar Hang Mui (nicht im Bild) war zur Preisverleihung digital zugeschaltet.
Foto: Augustinum / Christian Topp
Preisverleihung des euward8 im Haus der Kunst in München am 29. April 2021. Von links: Klaus Mecherlein (euward-Kurator), Joachim Gengenbach (Vorstand Augustinum Stiftung), Sabine Brantl (Kuratorin Haus der Kunst), Andreas Maus (1. Preis) und Felix Brenner (2. Preis). Der 3. Preisträger Kar Hang Mui (nicht im Bild) war zur Preisverleihung digital zugeschaltet.
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