Das Fließen der Zeit. Über die Malerei von Kerrin Voges.
Das intensive Betrachten und Empfinden von Menschen und Gegenständen ist die Grundlage des bildnerischen Schaffens von Kerrin Voges. Dieses Sehen führt sie zu einer Wirklichkeitsaneignung, die zwischen Entstehen, Werden und Vergehen oszilliert.
Offene, überwiegend weiß gehaltene Bildräume stellen die Ausgangssituation für die Wahrnehmung einer entgrenzten Zeit dar.
Die figürlichen Arbeiten der Künstlerin sind in dieser Hinsicht beispielgebend: laufen doch alle Protagonisten ins buchstäblich Offene: Unbegrenzte, helle Flächen soweit das Auge blickt, kein Ziel, nur der Horizont und die Weite der Landschaft.
In diesen Raum stellt die Malerin ihre in Blautönen changierende Figuren. Sie durchqueren den Bildraum seitlich oder mit dem Rücken zum Betrachter gerichtet. Sie sind zu zweit oder zu dritt ins Gespräch vertieft oder laufen schweigend nebeneinander her.
Obwohl die einzelnen Figuren nur schemenhaft erscheinen und keine Physiognomien erkennen lassen, sind sie als Individuen wahrnehmbar. Das liegt an ihrer jeweils fein beobachteten Körperhaltung: den in den Taschen versenkten Händen, der Neigung des Kopfes, dem aufrechten Gang oder der Dynamik der ausschreitenden Beine.
Bewegungsstudien und -skizzen im Stadtraum, Zeitungsausschnitte und Fotografien der Künstlerin liefern für die Motive der Laufenden die Voraussetzung.
Die helle Folie des Hintergrundes ermöglicht ein konzentriertes Wahrnehmen der Figuren.
Verstärkt wird dieser kontemplative Aspekt durch die Reduktion der Farben und die Verdichtung der Erzählung durch die wenigen Figuren vor der Weite der Landschaft.
Trotz dieser Entgrenztheit wirkt der Raum von Kerrin Voges jedoch niemals unbehaust.
Denn bei näherer Betrachtung zeigt sich ein höchst lebendiger Raum, der von Weiß-, Beige- Grau- und Blautönen, vereinzelten skizzenhaften Linien und den sich in Interaktion befindenden Menschen angereichert ist.
Darüber hinaus verleiht eine vielschichtige und differenzierte Malweise den Arbeiten eine transzendente Dimension, so dass der Eindruck einer Welt entsteht, die sich an der Schwelle von Entstehen und Verschwinden befindet.
Der französische Philosoph Henri Bergson hat sich als Vertreter der Lebensphilosophie mit der Veränderlichkeit des Seins und somit der Vergänglichkeit einer jeglichen Form auseinandergesetzt:
„Das Leben (...) ist Entwicklung. Jede Periode dieser Entwicklung fassen wir in eine wandellose Ansicht zusammen, die wir Form nennen; (...) es gibt keine Form, da Form ein Unbewegtes ist, Wirklichkeit aber ist Bewegung. (...) Form ist nur eine von einem Sich-Wandeln genommene Momentaufnahme.“
(Henri Bergson, Schöpferische Entwicklung, 1912, s. S. 300).
Diese Variabilität von Sein und Zeit ist vor allem in den Stillleben von Kerrin Voges präsent. Sie stellen die zweite große Werkgruppe im Schaffen der Malerin dar.
Wie die figürlichen Werke sind auch die Stillleben jeweils auf wenige Motive beschränkt: auf Vasen, die schlank oder bauchig alleine oder zu zweit, selten zu dritt auf Tischen oder nicht definierten Fläche stehen. Oft sind einzelne Blumen in sie eingestellt, aber niemals ein üppiger Strauß. Zart, fragil und versehrt wirken diese Pflanzen. Ihre Behältnisse sind vorläufig, entweder weil sie nur umrisshaft skizziert sind, weil sie schief, leicht gebogen in ihren Hälsen oder aber wacklig auf einer Tischkante stehen.
Insgesamt betrachtet weist die Serie der Stillleben, genauso wie die der figürlichen Arbeiten, eine reduzierte Farbpalette auf.
Partielle Unterschiede gibt es allerdings in der Darstellung der Begrenzung des Raumes: Durch zarte Linien, die die Vasen eingrenzen, durch dunklere Flächen, die den Raum beschränken, oder durch eine polychrome Farbdurchwirkung des Bildraumes.
Beide Bildserien verbindet ein Fluidum aus Luft und Licht, das fast physisch greifbar, um die Motive zirkuliert. Diese Atmosphäre entsteht durch die gekonnt austarierte Durchdringung von Maltechnik und Kolorit.
Eine Art Schwellenraum entsteht, der das Ineinanderfließen der Zeit visualisiert.
Kerrin Voges möchte die festen Dinge, die in unserem Sehfeld erscheinen nicht von der flüchtigen Weise ihres Erscheinens trennen. Es gelingt ihr die Materie zu malen, wie sie im Begriff ist sich eine Form zu geben, oder diametral entgegengesetzt, im Begriff ist sich aufzulösen.
So lotet die Künstlerin in ihren Bildwelten die Grenzen zwischen Entstehen, Werden und Vergehen aus. Damit ermöglicht sie dem Betrachter ästhetische Erfahrung als Balanceakt zwischen dem Sagbaren und dem Unsagbaren.
Andrea-Katharina Schraepler
(Kunsthistorikerin)
Über die Malerei von Kerrin Voges
Gibt es eine Konkretheit in der Abstraktion? Allerdings. Wer die diesbezüglichen Gemälde von Kerrin Voges betrachtet, der erfährt, dass die Kunst überhaupt erst in der Überwindung des Konkreten ihre Anschaulichkeit erlangt. Und auch Caspar David Friedrich gestaltet seinen „Mönch am Meer“ ausschließlich mit den Mitteln der Reduzierung. Das heißt, der Himmel und das Meer sind radikal verknappt und anschaulich zurückgedrängt, so dass der Mönch in seiner Einsamkeit, die Friedrich gestalten wollte, vor allem mit den Mitteln der Auslassung zur Geltung kommt. Kerrin Voges indessen geht einen Schritt weiter. Bei ihr wirkt die Welt, in die sie ihre Figuren setzt, wie ein gemaltes Nichts, wie eine flüchtige, von weiß und grau lediglich angedeutete Fläche, die aber in ihrer Eintönigkeit Assoziationen erlaubt. In dieser Fläche nämlich sind scharf umrissene, deutlich erkennbare Personen unterwegs. Wohin? Das erfahren wir durch ihre knappe, aber konkret umrissene Gestik. Etwa wenn eine Mutter mit ihrem Kind über das Abstraktum, das sie umgibt, als wäre es das Urbane, hinweg schreitet oder wenn zwei Personen keine Mühe haben, ihr Zusammentreffen, obwohl sie sich im Nirgendwo befinden, plausibel zu machen. Hier wird Anschaulichkeit durch das Unanschauliche realisiert, eine Kunst, die ich dem Magischen Realismus zuordnen würde. Aber ich kenne niemanden, dem dies wie Kerrin Voges derart überzeugend und auf frappierende Weise gelingt. Hier wird der Blick auf die Leinwand zum Erlebnis. Hier entsteht Betroffenheit. Hier entsteht Konkretheit durch Abstraktion. „Kunst ist Weglassen“, schrieb Leonhard Frank, und in diesem Punkt sollte man ihm nicht widersprechen.
(Hartmut Lange 2021, Schriftsteller)